Er wirkt er gehetzt, als er sich zu Beginn des Films auf den Weg macht. Entschlossen, etwas zu tun. Ein desertierter türkischer Soldat ist er, vielleicht, oder ein entflohener kurdischer Freiheitskämpfer. Er stamme aus Kayseri (in Zentralanatolien), antwortet Baran dem Chef der Strandbar in Marmaris (an der türkischen Ägäis), bei dem er sich später um einen Job bewirbt. Und noch später ist aus dem jungen hübschen Mann ein Gigolo geworden, der sich um begüterte Touristinnen in mittleren Jahren bemüht.
Er könne mehr aus sich machen, konstatiert nüchtern die Deutsche, die er eines Tages anbaggert, die sich aber auf nichts einlässt, zunächst jedenfalls. Die ihn dann aber nach Deutschland holt und heiratet. Die ihm also eine C
lso eine Chance gibt, indem sie ein Risiko eingeht; Marion, die abgeklärte Pilotin, die Liebe und Leben sicher im Griff zu haben glaubt – bis ihr die Brustkrebsdiagnose die Perspektiven verschiebt.Baran und Marion, die Protagonisten von İlker Çataks Es gilt das gesprochene Wort, sind beileibe kein Traumpaar; nicht nur stammen sie aus unterschiedlichen Kulturen, zusätzlich liegen Status- und Altersdifferenzen zwischen ihnen. Und doch sind sie ein Mann und eine Frau, die zueinanderfinden könnten. Von den Schwierigkeiten, dies zu tun, von den Hindernissen und Widrigkeiten, die das gesellschaftliche Umfeld für Baran und Marion bereithält, erzählt nun dieser Film – gegliedert in drei Kapitel, deren Titel „Ich war“, „Du bist“, „Wir werden sein“ sich an Lektionen in Sprachkursen orientieren und eine Zeitspanne von etwa drei Jahren umfassen. Gespielt werden Baran und Marion von Oğulcan Arman Uslu und Anne Ratte-Polle mit ebenso viel emotionaler Tiefe wie kontrollierter Zurückhaltung. Das Unausgesprochene und nur Angedeutete bestimmt ihre Interaktion und verleiht dem Zusammenspiel der beiden einen tiefen Reiz.Es gilt das gesprochene Wort ist der zweite Langfilm des 1984 in Berlin geborenen Çatak, der sein Abitur an der Botschaftsschule in Istanbul gemacht hat und danach in Berlin und Hamburg Filmregie studierte. Für Sadakat, seinen Abschlusskurzspielfilm an der Hamburg Media School, erhielt Çatak 2015 den Studenten-Oscar in Gold und gewann den Kurzfilmwettbewerb des Max-Ophüls-Festivals. Sein Langfilmdebüt legte er 2017 mit Es war einmal Indianerland vor, einer Adaption des gleichnamigen Jugendromans von Nils Mohl. Gemeinsam mit Mohl schrieb Çatak auch das Drehbuch für Es gilt das gesprochene Wort, das dann beim diesjährigen Filmfest München mit dem Förderpreis Neues Deutsches Kino ausgezeichnet wurde.Die Plot-Idee verdankt sich Beobachtungen, die Çatak während seiner sommerlichen Besuche bei den Großeltern machte, die in Marmaris eine kleine Pension führten. Im Gegensatz jedoch zu jener klischeehaften, dabei oftmals realen Konstellation, bei der eine naive Romantikerin an einen berechnenden Manipulator gerät, der sie ausbeutet, lässt Çatak in seinem Film Pragmatiker aufeinandertreffen.Bedingungslose FabulierlustEs ist eine Konstellation, die beide in ihrer jeweiligen Überzeugung immer wieder verunsichert. Sie haben die Lage, vor allem aber ihre Gefühle, doch nicht so im Griff wie gedacht, was die Dinge natürlich erst so richtig kompliziert macht und die Handlung ordentlich in Schwung bringt.Ist Es gilt das gesprochene Wort nun ein Migrantendrama oder ein Liebesfilm? Und ist das wichtig? Ist nicht vielmehr die Selbstverständlichkeit, mit der hier das eine im anderen aufgehoben ist und beides gleichermaßen Wahrhaftigkeit behauptet, das eigentlich Reizvolle und letztlich Überzeugende? Denn wie so viele Arbeiten deutschtürkischer FilmemacherInnen zeichnet sich auch dieser Film durch eine fast schon bedingungslose Fabulierfreude einerseits und souveränen Umgang mit Genreformeln andererseits aus.Den deutschen ZuschauerInnen, abgehärtet im Nieselregen des sprichwörtlich gewordenen, landestypischen „Problemfilms“, in dem viel bedeutungsschwanger geschwiegen, erratisch agiert und mit narrativen Ellipsen gearbeitet wird, mag die Handlungsfülle des sogenannten deutschtürkischen Kinos immer mal wieder suspekt erscheinen. Sind die wilden Geschichten, die dort erzählt werden, nicht etwas zu nah dran an der Kolportage? Am Mainstream-Melodram? Am Crowd-Pleaser?Klassiker-Beispiel: Gegen die Wand von Fatih Akin, gleichfalls ein Film über Schein-Eheleute, denen die Gefühle in die Quere kommen. Seine alle Fesseln sprengende Energie bescherte dem Film 2004 den Goldenen Berlinale-Bären und verpasste dem gerade wieder erstarkenden Glauben eines anspruchsvollen Publikums an den Film aus Deutschland einen ordentlichen Wachstumsschub. Schamlos krachen lässt es auch Özgür Yıldırım (Mit-Produzent: Fatih Akin), der 2008 mit Chiko – der Geschichte vom Aufstieg und Fall des gleichnamigen Kleinkriminellen im Hamburger Drogenmilieu – eine Filmversion von Gangsta-Rap vorlegte, bei der kein Auge trocken bleibt. Und mit geradezu antiker tragödischer Konsequenz schildert Feo Aladağ in Die Fremde (2010) das Schicksal der Deutschtürkin Umay, die sich von ihrem Mann trennt und von ihrer Familie verstoßen wird, weil diese den vermeintlichen Ehrverlust nicht ertragen kann.Immer geht es dabei um alles oder nichts, um jetzt oder nie, um ganz oder gar nicht. Und selbst wenn der ganze Ereignisreichtum und all die Gefühlsverwirrungen mitunter das Konzept des Wahrscheinlichen strapazieren, so bleiben die Geschichten in ihrem Kern doch glaubwürdig. Weil sich in ihnen ein Anspruch auf Welthaltigkeit widerspiegelt, der in reicher und vielfältiger Erfahrung begründet ist. Solcherart geerdet erlangt schließlich auch Es gilt das gesprochene Wort seine Kraft als ein mitten aus unserer Gegenwart gewachsener Film über Empathie und Solidarität und das, was uns retten könnte.Placeholder infobox-1