Fretterode: Immer noch auf freiem Fuß

Thüringen Zwei Neonazis attackieren Journalisten. Die Behörden ermitteln nur schleppend. Profitieren am Ende die Verdächtigen?
Ausgabe 33/2021

Mehr als drei Jahre nach dem brutalen Angriff von Neonazis auf zwei Journalisten im thüringischen Fretterode soll nun endlich der Strafprozess gegen die beiden Angreifer beginnen. Von 7. September an stehen Gianluca B. sowie Nordulf H. vor dem Landgericht in Mühlhausen. Den Angeklagten, die bislang zu den Tatvorwürfen geschwiegen haben, wird schwerer Raub und schwere Körperverletzung vorgeworfen. Möglicherweise aber wird der Tatvorwurf in der Hauptverhandlung sogar noch erweitert – auf versuchten Totschlag.

Der Überfall, der nun vor Gericht behandelt wird, ereignete sich am 29. April 2018. An diesem Tag hielten sich die Göttinger Journalisten Malte und Julius (Namen geändert, die Red.) auf einer öffentlichen Straße vor dem Grundstück des NPD-Vizechefs und Veranstalters von Neonazi-Konzerten Thorsten Heise in Fretterode im Landkreis Eichsfeld auf. Sie hatten einen Hinweis darauf erhalten, dass an diesem Tag ein Treffen führender Neonazis bei Heise stattfinden sollte. Die beiden Journalisten, die seit geraumer Zeit die Aktivitäten der Neonazi-Szene im Raum Niedersachsen-Thüringen recherchieren und dokumentieren, wollten die anreisenden Nazikader fotografieren.

Das Grundstück des mehrfach vorbestraften Rechtsextremisten, der 1999 aus Niedersachsen nach Thüringen gezogen ist und als wichtigste, einflussreichste Verbindungsfigur zwischen der Kameradschaftsszene in Deutschland und der NPD gilt, ist nicht zu übersehen. Sein sogenanntes Rittergut Hanstein, ein stattliches Fachwerkhaus, sticht in dem kleinen, nur 130 Einwohner zählenden Dorf im Eichsfeld hervor. Das Anwesen liegt auf einer kleinen Anhöhe gleich hinterm Kriegerdenkmal. Auch der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke, zu dem Heise gute Kontakte unterhalten soll, ist hier schon gesehen worden. Der Weg zu Heises Haus durch den Garten führt vorbei an einem steinernen Denkmal, das die Abzeichen der Leibstandarte SS Adolf Hitler und der 12. SS-Panzerdivision Hitlerjugend trägt. Das Denkmal war ursprünglich 1971 in der Taunusgemeinde Marienfels errichtet worden. Nachdem es 2004 von Unbekannten zerstört worden war, hatte es Heise bei sich wieder aufgebaut.

Sie kommen nicht weit

Auf diesem Grundstück nun sollte an jenem Apriltag vor drei Jahren angeblich ein Treffen führender Neonazis stattfinden. „Anderthalb Stunden lang passierte aber nichts, dann kam plötzlich jemand von Heises Grundstück, sprang über den Zaun und lief um unser Auto herum“, erinnert sich Malte, einer der beiden Journalisten. Sie hätten den Mann fotografiert, der daraufhin in das Haus zurücklief. Kurz darauf seien er und sein Freund Julius zu dem Entschluss gekommen, das Feld zu räumen.

Die Journalisten fuhren mit ihrem Auto davon, doch sie kamen nicht weit. Am Ortsausgang blockierte ein schwarzer Wagen die Straße. Zwei Männer sprangen heraus, vermummt. „Sie rannten auf unser Auto zu und hatten einen langen Schraubenschlüssel und einen Baseballschläger dabei“, erinnert sich Malte. „Wir fuhren rückwärts, aber einer der beiden rannte hinter unserem Auto her.“ Schließlich gelang es ihnen, aus Fretterode herauszukommen und davonzufahren. Aber der schwarze Wagen ihrer Verfolger hatte sie schnell eingeholt. Über mehrere Kilometer hinweg dauerte die Verfolgungsjagd, „die saßen uns praktisch auf der Stoßstange“, sagt Malte.

Die Flucht endete schließlich in einem Straßengraben am Ortseingang von Hohengandern, das etwa acht Kilometer entfernt liegt von Fretterode. Wie Malte schildert, habe das Auto der Verfolger angehalten, die beiden Insassen seien herausgesprungen und auf das Auto der Journalisten zugelaufen. Geistesgegenwärtig hatte Malte zuvor noch die Speicherkarte aus der Kamera genommen und sie in seinem Strumpf versteckt. Darauf waren Fotos eines der beiden Angreifer. Die Neonazis – so die Schilderung der überfallenen Journalisten bei der Polizei – zerstachen die Reifen, zerschlugen die Scheiben des Autos und sprühten Pfefferspray in das Wageninnere.

Julius, der aus dem Auto flüchtete, wurde von Gianluca B. verfolgt. Als B. ihn einholte, habe der ihn mit einem etwa 60 Zentimeter langen Schraubenschlüssel mit voller Wucht auf den Kopf geschlagen, gab Julius an. Das führte zu einer heftig blutenden Platzwunde am Kopf. Später diagnostizierten Ärzte zudem eine Schädelfraktur bei dem jungen Mann.

Malte war nach eigenen Angaben unterdessen im Auto geblieben und versuchte, sich gegen den zweiten Angreifer – Nordulf H. – zur Wehr zu setzen. Der hatte es offenbar auf die Kamera abgesehen, die im Auto lag. Mehrmals soll H. mit einem langen Messer, wie es sie in Outdoor-Läden gibt, nach dem Journalisten im Auto gestochen und ihn schließlich im Oberschenkel getroffen haben. Dann habe H. sich die Kamera aus dem Wageninneren gegriffen, seinen Kumpel B. gerufen und sei mit ihm in dem Auto davongerast.

Die Ermittlungen der Eichsfelder Polizei liefen nur schleppend an. Anfangs ging man von einer durch beide Seiten provozierten Schlägerei aus und ermittelte sogar kurzzeitig gegen die Opfer. Erst als das Landeskriminalamt auf die Proteste der Opferanwälte reagierte und die Ermittlungen übernahm, wurden die beiden Angreifer identifiziert und als Beschuldigte in dem Verfahren eingestuft. Es dauerte dann noch einmal fast ein Jahr bis zur Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft Mühlhausen. Der Anklagevorwurf wurde jedoch auf schweren Raub und schwere Körperverletzung beschränkt. Eine Tötungsabsicht, wie sie die Anwälte der beiden Opfer sehen, oder auch nur einen bedingten Tötungsvorsatz – hierbei zielt der Täter nicht darauf, das Opfer zu töten, nimmt aber dessen möglichen Tod bei seinem Angriff billigend in Kauf – vermochten die Ankläger nicht zu erkennen. Dafür hätten sich nach den Ermittlungen der Polizei „keine objektiven Anhaltspunkte“ ergeben, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft.

Der Göttinger Rechtsanwalt Sven Adam, der zusammen mit seinem Kollegen Rasmus Kahlen die Überfallopfer vertritt, sieht das anders. „Wer mit einem Messer blindwütig durch eine eingeschlagene Autoscheibe nach einem Menschen sticht, muss damit rechnen, dass er ihn so schwer verletzt, dass der Angegriffene tödlich verletzt wird“, sagt Adam. Wenn zum Beispiel die Oberschenkelarterie getroffen wird, verblute das Opfer binnen Minuten.

Auch bei dem Angreifer, der Julius mit einem großen schweren Schraubenschlüssel mit voller Wucht auf den Kopf geschlagen habe, könne man einen Tötungsvorsatz durchaus annehmen, ergänzt Anwalt Kahlen. „Im Prozess wird eine Rechtsmedizinerin dahingehend befragt werden, ob solch ein Schlag auch zum Tode führen kann. Wenn die Expertin das bestätigt, könnte es passieren, dass die Anklage auf versuchten Totschlag erweitert wird.“ Er, Kahle, sei sicher, dass das Gericht dies umfangreich prüfen werde.

Ziehsohn von NPD-Vize Heise

Aber auch wenn die Anklage in ihrer jetzigen Form bestehen bleibt, droht beiden Tatverdächtigen eine mehrjährige Freiheitsstrafe. Denn allein schon für den schweren Raub, den B. und H. unter Verwendung eines gefährlichen Gegenstandes (großer Schraubenschlüssel) und einer Waffe (Messer) begangen haben sollen, droht ihnen laut Paragraf 250 des Strafgesetzbuches eine Mindeststrafe von fünf Jahren Haft. Mindestens fünf Jahre, wie Anwalt Kahlen betont: „Bei der Intensität des Angriffs und der Zerstörung des Autos sowie des Raubs einer kostspieligen Kameraausrüstung bewegt sich das Delikt längst nicht mehr im unteren, sondern eher im mittleren Strafrahmen. Und da sind wir schon bei sieben bis acht Jahren Haft.“

Umso unverständlicher ist es vor diesem Hintergrund, dass beide dringend tatverdächtigen Angeklagten seit der Tat auf freiem Fuß sind. Gianluca B. etwa, der als politischer Ziehsohn von NPD-Bundesvize Heise gilt, lebt auf dem Grundstück seines Förderers in Fretterode. Ein halbes Jahr nach dem Angriff von 2018 agierte er bei einem Nazitreffen auf Heises Anwesen sogar als Ordner und Ansprechpartner der Polizei. An diesem Tag hatte Heise den 96-jährigen Kriegsverbrecher Karl Münter als Referenten eingeladen. Rund 120 Neonazis aus ganz Deutschland und dem Ausland waren zu dieser Veranstaltung angereist. Der frühere SS-Mann Münter hatte im April 1944 an dem Massaker im französischen Ascq mitgewirkt, bei dem eine SS-Einheit 86 Zivilisten erschoss.

Und Nordulf H. – zur Tatzeit noch minderjährig – konnte nach dem Überfall sogar ins Ausland übersiedeln und eine Ausbildung in der Schweiz absolvieren. Nach Recherchen des Internetportals tatort-fretterode.org soll er in Visp im Oberwallis von einem Freund der Familie Heise aufgenommen worden sein. Der Schweizer gilt als Verantwortlicher für die Blood&Honour-Sektion des Kantons Oberwallis und betreibt ein Tattoo-Studio und einen szenetypischen Textilienshop. Nordulf H. soll sich zudem in der Schweiz im Umfeld sowohl von rechtsextremen Gruppen wie auch den Hooligans des FC Sion bewegt haben.

Der Umstand, dass gegen beide Angeklagten nie ein Haftbefehl erlassen wurde, ist aus Sicht von Anwalt Kahlen auch der Hauptgrund für die bisherige lange Verfahrensdauer. „Die Straftat ist von der Intensität her vergleichbar mit einem bewaffneten Banküberfall, bei dem es Verletzte gibt“, sagt Kahlen. „Aber während ein Bankräuber mit Sicherheit in Untersuchungshaft wandern würde, konnten die beiden Angeklagten in diesem Fall mehr als drei Jahre lang völlig unbehelligt leben. Und da der Fall keine Haftsache war, galt auch nicht das Beschleunigungsgebot für das Strafverfahren.“ Im Prozess müsse man nun darauf achten, dass das Gericht die lange Verfahrensdauer nicht als mildernd für die Angeklagten wertet, sagt er. Aus früheren Beispielen wie den Prozessen wegen der Neonaziüberfälle in Leipzig-Connewitz und im thüringischen Ballstädt wisse man, dass dies zu milden Strafen für die Angeklagten führen kann.

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