In milchigem Orange senkt sich der Schleier bis hinunter in die Straßenlöcher. Im Kessel der fast tausend Meter hohen Berge des Changbai legt sich in Benxi an windstillen Tagen ein Cocktail aus Schwefel und salzigem Kohlenstaub auf die Zunge. Langnasen atmen unwillkürlich flacher. Zhang Dong lächelt, sein stark rußendes Taxi und die seiner tausend Kollegen tragen am wenigsten dazu bei, dass einem die Stadt an den meisten Tagen im Jahr noch immer den Atem nimmt. "Das ist die beste Luft, die wir hier je hatten. Aus dem Schornstein der Kokerei kommt zwar noch immer das reine Gift. Vor zehn Jahren war es aber viel schlimmer. Oft kam der Regen schwarz von oben auf uns runter."
So sehen es wohl alle. Trotz des allgegenwärtigen Mundschutzes zieht es am Wochenende viel
nende viele Familien in den kleinen Freizeitpark im Zentrum, die ökologische Verdrängungsgemeinschaft im Nordosten der Mandschurei funktioniert reibungslos. Noch heute haben fast zwei Drittel der Belegschaften in der Kokerei und in den letzten beiden Stahlfabriken schwere Lungenkrankheiten. Dennoch ist Ökologie kein Thema, das von lokalen Politikern totgeschwiegen werden müsste. Beinahe jeder der 1,5 Millionen Einwohner trauert der guten alten Zeit nach, als Vollbeschäftigung herrschte. Dabei sind ökologische Fortschritte aus Sicht von Zhang nicht zu leugnen. Obwohl es die Information von örtlichen Politikern oder gar in den Medien offiziell nie gegeben hat - jeder hier in Benxi weiß, dass dies vor noch nicht allzu langer Zeit der einzige Ort auf der Erdkugel war, den amerikanische Spionagesatelliten dank der wahnwitzigen Luftverschmutzung nicht "sehen" konnten. Zumindest das ist heute vorbei. Die ökologische Katastrophe der sozialistischen Industrialisierung entspannt sich dennoch nur sehr langsam, die negativen Begleiterscheinungen hoher Arbeitslosigkeit hingegen gehören nun schon seit Jahren zum Alltag. Hier, in einem der alten industriellen Zentren im Nordosten Chinas, tritt die Alternative zwischen ökologischem Fortschritt und massenhaftem Wegbrechen von Arbeitsplätzen unbarmherzig zutage. Allein in den Stahlwerken arbeiteten einst 80.000 Menschen, heute sind es noch knapp 2.000. Zwar darf auch in der Provinz Liaoning die offizielle Arbeitslosenquote eigentlich nicht über den landesweit verordneten 4,9 Prozent liegen, aber für Benxi hat man mit 5,6 Prozent eine Ausnahme zugelassen. Leicht nach oben korrigiert, hat allerdings auch diese Zahl mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Die Summe der "Freigesetzten" aus staatlichen Unternehmen und derjenigen vom Lande, die in der Stadt ihre Arbeit verloren haben und weiter hier leben, ergibt bei optimistischer Schätzung eine Quote von 25 bis 30 Prozent.Handel, Banken, Telekommunikation - die wenigen Unternehmen mit Wachstum und Arbeitskräftebedarf sind mit ihren Produkten und ihren Personalvorstellungen dem in China allgegenwärtigen Jugendwahn verfallen. Tatsächlich gilt man mit 40, bei Frauen oft schon mit 35 Lebensjahren, als unbrauchbar für die chinesische Version des Turbokapitalismus. Auf den Straßen vor dem Arbeitsamt werben hunderte Arbeitslose für ihre Qualifikationen und Fähigkeiten - mit kleinen, an die Kleidung geheftete Pappschildern oder mit Hammer, Säge und anderem Werkzeug. Stundenlöhne von zwei Renmimbi (20 Cent) werden akzeptiert. Hinter der Brücke über den Taizihe, der die Innenstadt begrenzt, hat die Stadtverwaltung in einem heruntergekommen Haus die oberste Etage zum "Zentrum für Wiedereingliederung und Qualifizierung" erklärt. "Ich bin seit elf Jahren arbeitslos, aber es ist schön, dass ich hier andere Menschen treffen, einen Tee trinken und mich mit ihnen unterhalten kann." Huan Dong ist 40 und fiel 1993 gleich der ersten Entlassungswelle eines staatlichen Baubetriebes zum Opfer: Wer will schon einen, der nur noch einen halben Magen hat? Er ist der Jüngste der Frauen und Männer hier, bis zum Renteneintrittsalter sind beinahe alle Jahrgänge vertreten. Nach zwei Jahren monatlicher Unterstützung von etwa 30 Euro gibt es vom Staat nichts mehr - das Geld, das seine Frau als Verkäuferin nach Hause bringt, reicht gerade so.Wiedereingliederung und Qualifizierung? Huan und seine Freunde wissen genau, dass sie den Namen des Zentrums nicht Ernst nehmen dürfen. Er ist nur ein glänzendes Schild vor einem Haus, in dem die ersten beiden Etagen seit vielen Jahren nicht mehr bewohnt werden und nachts Unterschlupf für zahlreiche Obdachlose bieten. Auch bei längerem Nachdenken können sich alle hier nur an einen Kurzlehrgang für richtiges Verhalten in Bewerbungsgesprächen erinnern. Für Huan vertane Zeit, aber nicht weiter schlimm. "Bewerbungstermine hat es für keinen von uns gegeben. Das Arbeitsamt hat sich nach den zwei Jahren der Unterstützungsleistung nie wieder bei mir gemeldet, auch sonst keiner. Ich würde eigentlich jede Arbeit annehmen. Aber selbst beworben habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nirgendwo." Wie Huan haben auch alle anderen mit dem Gedanken an eine erfolgreiche Rückkehr ins Arbeitsleben abgeschlossen. Dass die alten Industrieregionen des Landes besonderer Aufmerksamkeit bedürfen, scheint zumindest Chinas Führung verstanden zu haben. Ein vorerst auf drei Jahre angelegter Plan der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission will alle drei Nordostprovinzen in Schwung bringen. Irgendwann soll auch ein 1.380 Kilometer langer Schienenweg entstehen, der die Grenzregionen Chinas, Russlands und Nordkoreas verbinden, ihre alten Industrien allesamt aus der Isolation in den Weltmarkt führen und rohstoffreiche Regionen erschließen soll. Allein in China will man zehn Städte und 30 Kreise einbeziehen, auch hier steht Benxi auf der Liste. Noch scheint die Finanzierung kein Problem. Bankkredite mit billigen Zinsen, umgelenkte Gelder aus der Entwicklungshilfe und Eigenkapitalhilfen für die noch staatlichen Unternehmen werden zugesichert.Die hohen Rohstoffpreise auf den Weltmärkten und die langfristig begrenzten Ressourcen wären eigentlich ideal für ein Comeback des Nordostens Chinas. Bereits jetzt ist die Volksrepublik einer der größten Verbraucher: 40 Prozent der Weltkohleproduktion, 25 Prozent der Nickel- und Stahlherstellung und 20 Prozent der Aluminiumerzeugung werden in China verarbeitet. Aufgrund dieses Nachfragebooms sind in jüngster Zeit die Metallpreise auf den Weltmärkten teilweise um mehr als 100 Prozent gestiegen. Stahlstandorte wie Benxi könnten gegenwärtig soviel produzieren wie sie wollen, nichts würde unverkäuflich bleiben. Ob die Stadt die verheißungsvolle Zukunft des "Nordostplanes" je erreichen wird, ist dennoch nicht sicher. Die Kohle in unmittelbarer Umgebung - der Standortvorteil schlechthin für billigen Stahl - ist heute schon fast erschöpft. Ohne diesen Trumpf könnte Benxi ins Bodenlose fallen, wie die Häuser, die immer wieder in alte Stollen absacken. Die US-Satelliten kämen auf ihre Kosten, aber die Menschen nicht, die von sauberer Luft allein nicht leben können.