Immer wieder

Kehrseite Es war um die Jahrtausendwende, als immer mehr Menschen die Aktienkurse verfolgten. Und weil sie hörten, dass man mit Aktien praktisch im Schlaf viel ...

Es war um die Jahrtausendwende, als immer mehr Menschen die Aktienkurse verfolgten. Und weil sie hörten, dass man mit Aktien praktisch im Schlaf viel Geld verdienen könne, kauften sie auch Aktien. Und immer mehr Menschen hörten dies, kauften sich Computer und Börsensoftware, lasen Börsenzeitschriften und gingen ins Internet, um gleich per online direkt bei ihrer Bank zu ordern. Und so stiegen die Aktienkurse unaufhaltsam.

Und meinte jemand vorsichtig, dass diese oder jene Aktie vielleicht überteuert sei, weil der Börsenwert des Unternehmens inzwischen beim zweihundertfachen, ja sogar beim tausendfachen des Gewinns liege, so wurde ihm von Leuten, die sich Analysten nennen, umgehend bedeutet, dass er keine Ahnung habe. Schließlich handle es sich um Zukunfts-märkte mit ungeahnten Möglichkeiten. Und hier müsse man beim Kurs-/Gewinnverhältnis schon bitte ein bisschen weiter in die Zukunft blicken. Als schließlich die BLIND-Zeitung, die ansonsten glücklich war, wenn es ihr gelang, Microsoft von Zewasoft zu unterscheiden, immer häufiger von jungen Börsenmillionären in ihren prächtigen Villen berichtete, stürmten die kleinen Leute die Banken und baten die Angestellten Hände ringend, doch einen großen Teil ihrer Ersparnisse sofort in Aktien anzulegen, weil sie auch so reich werden wollten. Erfahrene Banker, die in ihrem Leben mehrere Crashs erlebt hatten, sprachen untereinander grinsend von der so genannten Dienstmädchenhausse, hüteten sich aber, dies öffentlich kund zu tun.

Es geschah praktisch über Nacht. Der amerikanische Notenbankpräsident erlitt während einer wichtigen Rede einen Hustenanfall, weil er vorher unvorsichtigerweise drei Stück Diätzwieback gegessen hatte. Ein dabei ausgestoßenes Wortfragment wurde von niemandem verstanden, deshalb als sehr negativ für den Markt betrachtet, worauf der Dow Jones innerhalb von 90 Minuten 420 Punkte verlor. Am folgenden Tag brachen zunächst die asiatischen, dann die europäischen Börsen im Schnitt um sechs Prozent ein. Das führte an der Wall Street zu einem weiteren Rückgang von acht Prozent, worauf die Asiaten mit einem Minus von neun bis zwölf Prozent konterten. Das ließ den DAX nicht ruhen, er stürzte um zehn Prozent. Der Dow Jones in New York ließ sich nicht lumpen und gab weitere sechs Prozent nach, worauf der DAX am nächsten Morgen schon in der ersten Stunde sieben Prozent verlor. Und in den folgenden Wochen fielen die Kurse immer mehr.

Nun meldeten sich die Analysten zurück, wiesen auf die exorbitant gestiegenen Kurse hin und meinten, der Rückgang sei natürlich vorhersehbar gewesen, man müsse mit weiteren Verlusten in der nächsten Zeit rechnen. Die Kurs-/Gewinnverhältnisse vieler Aktien seien geradezu abenteuerlich hoch gewesen. Das hätte man nun wirklich klar sehen können. Die Hausfrauen und die jungen Zocker, die in ihrem Leben nie einen Börsencrash erlebt hatten, bekamen zittrige Hände und versuchten in immer größerem Ausmaß zu retten, was zu retten war. Und die Kurse sanken und sanken, bis einige Aktien, vor allem jene, deren Besitz als besonders cool galt, bis zu 90 Prozent ihres Höchstwertes verloren hatten. Da weinten viele kleine Anleger und schworen sich, nie wieder mit Aktien zu spekulieren.

Doch als die Kurse ganz unten waren, stiegen die Banken als erste wieder ein, auch mit ihren Fonds. Und als die Aktien darauf hin wieder stiegen, gaben ihre Analysten in großer Zahl Empfehlungen für Aktienkäufe und wiesen darauf hin, dass man so billig nie wieder kaufen könne. Und die Kurse stiegen und stiegen. Und alle, die sich geschworen hatten, nie wieder mit Aktien zu spekulieren, kauften. Und wenn sie nicht gestorben sind, werden sie es immer wieder tun.

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