Immer wieder gibt es Huhn

Film „The Father“ erzählt das Leben aus der Sicht eines Demenzpatienten – und Anthony Hopkins brilliert
Ausgabe 34/2021

Die Gestalten wandeln sich: Da ist eine anwesende und eine abwesende Tochter. Ein Mann, der zur Tochter gehört – war da nicht eben noch ein anderer? Eine Pflegerin ist gegangen, und eine neue wird in das Leben des alten Mannes eingeführt. Dinge und Ereignisse tauchen wiederholt in unterschiedlichen Anordnungen auf und werden zu Indizien, die es zu entschlüsseln gilt: ein Bild an der Wand, ein Umzug nach Paris, ein Unfall. Alles ist im Fluss, nichts verlässlich. Die Tageszeiten wechseln scheinbar willkürlich. Immer wieder gibt es Huhn zu essen.

The Father, das Spielfilmdebüt des Autors und Theaterregisseurs Florian Zeller, will die Welt aus der Perspektive eines Demenzpatienten zeigen. Eigentliche Hauptfigur ist die Krankheit, die von ihm Besitz ergriffen hat. Nicht aus den Charakteren leiten sich die Konflikte ab, sondern aus dem Zustand des alten Mannes. Seine Vorgeschichte ist nur vage definiert. Sein Verhalten wird in jedem Moment von der Krankheit bestimmt, seine Persönlichkeit ist ihr Produkt. Nun tritt Demenz in sehr unterschiedlichen Formen auf. Abgesehen davon, dass ihr Fortschreiten in den meisten Fällen – und bei Alzheimer immer – unumkehrbar ist, sind die Symptome der Patient*innen individuell unterschiedlich. Doch statt Partikularitäten sucht The Father das Allgemeine – die Essenz eines Zustands, der die menschliche Existenz an den Rand ihrer Auflösung bringt.

Manches wirkt deshalb etwas schablonenhaft – etwa wenn sich das Bemühen des alten Mannes, die Kontrolle über sein Leben zu behalten, darin zeigt, dass er den Tick hat, ständig auf seine Armbanduhr zu gucken. Letztere verlegt, versteckt und sucht er unentwegt. Natürlich verdächtigt er seine Pflegerin, sie ihm gestohlen zu haben. Aber es gelingt dem Film, wiedererkennbare Grundmuster der Krankheit treffend zu beschreiben. Allen voran das Abreißen der Verständigung zwischen dem Demenz-Patienten und seinen Mitmenschen über die äußere Welt. Dies ist es, was die Krankheit sowohl für den Vater als auch die pflegende Tochter so schmerzhaft macht. Keine noch so große Anstrengung auf der einen oder auf der anderen Seite kann diesen Verlust der Welt als gemeinsamer Referenz verhindern.

Anthony Hopkins, der den Vater spielt, gelingt es, die Spannung über die wechselnden Gefühlslagen hinweg zu halten. So wie er damit kämpft, die Ereignisse um ihn herum zu deuten und einzuordnen, was ihm nur unzureichend gelingt, bemüht man sich als Zuschauer*in, seine Reaktionen einzuordnen und vorherzusehen. Und obwohl das Verhalten des alten Mannes oft irrational oder unangemessen ist, liegt in seiner permanent sichtbaren Anstrengung ein identifikatorisches Moment. Müssen wir uns nicht auch in geistig gesundem Zustand immer anstrengen, die Welt zu begreifen, um mit ihr in Kontakt zu bleiben? Die Angst, es könnte uns nicht gelingen, ist nicht für Menschen mit Demenz reserviert. In der existenziellen Unsicherheit des alten Mannes tritt etwas grundlegend Menschliches zutage. Der Film konfrontiert uns damit.

Dies tut er durch das brillante Schauspiel seines Darstellers. The Father ist die Adaption von Zellers oft ausgezeichnetem Theaterstück Le Père von 2014. Auch im Film werden dem Schauspiel alle anderen Mittel untergeordnet. Die Kulisse ist minimalistisch und dient dazu, die Regungen des Schauspielers in Szene zu setzen und die Illusion seiner Perspektive zu verstärken. The Father ist ein Film über das Menschsein und darüber, was es heißt, dem eigenen Geist bei seiner Auflösung zusehen zu müssen. Zugleich ist er eine Ode an die Kunst des Schauspiels, also an das Verkörpern des Menschlichen durch den menschlichen Körper. Das ist konsequent, denn vor dem Körper gibt es kein Entkommen.

Info

The Father Florian Zeller Großbritannien, Frankreich 2020, 97 Minuten

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