Biontech-Chef Uğur Şahin ist an 500 Patenten beteiligt
Foto: Eric Gaillard/Reuters
Sie stand kopf, die Weltöffentlichkeit, als US-Präsident Joe Biden am Mittwoch vergangener Woche verkündete, eine zeitweise Aussetzung des Patentschutzes für Corona-Impfstoffe zu unterstützen; und die Märkte zeigten unmissverständlich, was sie davon halten: Die Aktienkurse der Impfstoffentwickler Curevac und Biontech brachen ein. Mit der Forderung nach Aufhebung des Patentschutzes wird das Allerheiligste des Kapitalismus angegriffen: Das Privateigentum, in diesem Falle das geistige Eigentum. Kein Wunder, dass die Pharmalobby Sturm läuft. Auch die Bundesregierung ist dagegen, Kanzlerin Angela Merkel griff gar zum Telefonhörer, um mit Biontech-Chef Uğur Şahin die Sache zu besprechen. Die Argumente sind allerdings durchsichtig, globale Ve
Verteilungsgerechtigkeit steht dabei nicht an erster Stelle. Übrigens auch nicht bei den USA.Anlass der Aufregung ist ein Verzichtsantrag der Regierungen Indiens und Südafrikas bei der Welthandelsorganisation. Der Schutz des geistigen Eigentums bei Covid-19-bezogenen Medikamenten, Impfstoffen, Diagnostika und Schutzmaterialien solle temporär ausgesetzt werden. Die Hoffnung: Unternehmen in den Ländern des globalen Südens könnten die Schutzmittel gegen Corona selbst produzieren, ohne Patentklagen zu befürchten. Denn die globale Impfkampagne kommt nicht voran. Stand Ende April 2021 waren zwar mehr als eine Milliarde Impfdosen verabreicht worden, aber 90 Prozent davon in zehn reichen Ländern. In fast 130 Ländern mit insgesamt 2,5 Milliarden Menschen waren es dagegen nur etwas mehr als 100 Millionen Dosen.Bei den reichen Industrieländern stieß das Anliegen bisher trotz der globalen Notlage auf Ablehnung. Dagegen löste Bidens überraschende Kehrtwende bei den Antragstellern Jubel aus, auch die EU-Kommission zeigte sich zunächst offen. Nicht so die Bundesregierung. Sie stimmte stattdessen ein in den Chor der Pharmaindustrie: Der Schutz geistiger Eigentumsrechte biete Anreiz für Forschung und Entwicklung von Impfstoffen. Sichere man den Herstellern nicht die Möglichkeit, aus ihren Patenten einen Gewinn zu erzielen, würden sie nicht mehr investieren. Angesichts drohender künftiger Pandemien wäre das eine Katastrophe.Außerdem, so gab der Bundesverband der deutschen Industrie Schützenhilfe, würde das Aussetzen der Patente die Impfstoffproduktion nicht beschleunigen. Man pflichtete damit der Pharmaindustrie bei, die nicht müde wurde zu betonen, dass es den ärmeren Ländern an allem mangle, was man für die Impfstoffproduktion benötige: Vorprodukte, Know-how, Infrastruktur. Ein sehr viel größeres Problem seien Exportrestriktionen für bestimmte Komponenten oder Impfstoffe. Während die EU etwa die Hälfte ihrer 400 Millionen produzierten Impfungen exportierte, hätten die USA ihre produzierten Impfstoffe alle selbst verbraucht. Der Vorstoß von US-Präsident Biden sei daher wohlfeil. Laut Bloombergs „Vaccine Tracker“ ist in den USA inzwischen ein Drittel der Bevölkerung vollständig geimpft. In Indien, wo das Virus außer Kontrolle geraten ist, sind es nur 2,5 Prozent der Bevölkerung.Die Gegner einer Patentaussetzung verweisen auch auf die Initiative COVAX, eine Art globaler Umverteilungsmechanismus, bei dem reiche Länder die Unterversorgten mit Impfstoff ausstatten, sowie einen bei der Weltgesundheitsorganisdation (WHO) angesiedelten Pool, in den Produktionswissen und Patente freiwillig eingebracht werden könnten. Zu wenig, zu langsam, klagen dagegen die Länder im globalen Süden.Die Argumente gegen die Patentfreigabe klingen auf den ersten Blick plausibel. Tatsächlich sind die Produktionsbedingungen der neuen mRNA-Impfstoffe nicht einfach. Die Zahl der Komponenten, die Schwierigkeit ihrer Beschaffung, die Komplexität der Verarbeitung, die hohen Qualitätsstandards, die Anforderungen an die Lagerhaltung: All das sind Bedingungen, die ein spezifisches und weltweit noch nicht eingeübtes Erfahrungswissen benötigen. Aber genau deshalb umfasst die Forderung nach Aussetzung des Patentschutzes auch den Transfer des Know-hows, von Daten aus den klinischen Studien sowie die Aufhebung von Geschäftsgeheimnissen.Die Pharmabranche warntAber wenn man sowieso davon ausgeht, dass es den Entwicklungsländern an Kompetenz und Kapazitäten mangelt, was spräche dann dagegen, den Patentschutz aufzuheben? Ist es wirklich so, wie es mitunter aus der Pharmabranche heißt, dass ungeübte Hersteller panschen könnten und damit mehr Schaden für die Gesundheit anrichten als Nutzen? Und könnte man dem mit einer gezielten Produktionspartnerschaft nicht abhelfen? Ein Beispiel aus den USA zeigt, dass es geht: Das in Seattle/USA ansässige Biotech-Unternehmen HDT ging beispielsweise eine Produktionskooperation mit dem indischen Biotech-Unternehmen Gennova Biopharma in Pune ein. Indien könnte damit laut Business Today India seinen ersten einheimisch produzierten mRNA-basierten Covid-19-Impfstoff erhalten.Wie unklar derzeit die Antworten auf all diese Fragen auch sein mögen, eines ist sicher: Ein kostenfreier Transfer des Wissens wäre vielleicht nicht die hinreichende Bedingung für eine Ausweitung von Produktionskapazitäten – eine unbedingt notwendige aber schon. Geheimhaltung ist Gift für kooperative Forschung und Entwicklung.So bleibt am Ende nur das Investitionsargument übrig: Niemand würde mehr forschen und produzieren, wäre nicht die Möglichkeit gegeben, aus den Ergebnissen Gewinn zu ziehen. Doch das ist angesichts der Summen, die die Impfstoffhersteller jetzt schon eingestrichen haben, eher unglaubwürdig. So sind die Zwillingsbrüder Andreas und Thomas Strüngmann größter Einzelaktionär von Biontech, sie teilen sich im Forbes-Ranking der reichsten Unternehmer der Gesundheitsbranche Platz 5, Uğur Şahin steht mittlerweile auf dem Milliardärsindex von Bloomberg. Und das sind nur Beispiele.Man darf sich nichts vormachen, auch die Eigentümer der Biotech-Unternehmen im globalen Süden produzieren Vakzine nicht aus Altruismus, sondern ganz der herrschenden Anreizstruktur des Privateigentums folgend werden Impfstoffe produziert, um das investierte Kapital zu vermehren. Des einen Leid, des anderen Freud: Die Coronakrise hat überall die Superreichen der Gesundheitsbranche noch reicher gemacht.China könnte zugreifenKonkurrenz und Expansionsdrang sind charakteristische Kennzeichen dieser Anreizstruktur. Sie führte dazu, dass mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zunehmend auch geistig-kreative Schöpfung zur Ware wurde. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde geistiges Eigentum schließlich Gegenstand internationaler Verträge im Rahmen der Welthandelsorganisation. Seither gewinnt es als Handelsgut immer mehr an Gewicht für Wirtschaftswachstum.Auch in der Biotechnologiebranche ist der Schutz geistigen Eigentums zentral. Der Bundesregierung gilt dieses Marktsegment als Hoffnungsträger für Wachstum. Patente dienen der Sicherstellung der Marktposition. Die Wirtschaftswoche berichtet, dass Uğur Şahin an 500 Patenten beteiligt ist. Worum es also eigentlich geht, das hat Bundeskanzlerin Angela Merkel jüngst recht deutlich ausgesprochen: Das Fachwissen über die neuartigen mRNA-Impfstoffe könne bei einer Offenlegung der Patente nach China abfließen, warnte sie.Nun gilt auch in den USA die Biotechnologie als Wachstumstreiber und die Konkurrenz zu China ist auch hier groß. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wieso Biden dem globalen Süden entgegenkommen will. Eine Mehrheit an Demokraten forderte den Präsidenten Ende April auf, „Amerikas Führungsrolle im Bereich der öffentlichen Gesundheit auf der Weltbühne wiederherzustellen“. Die Aktion ist daher nicht ganz selbstlos. Doch China und Russland sind schneller, sie beliefern Entwicklungsländer mit Impfstoffen, bauen Anlagen für die Produktion und erhöhen so ihren Einfluss. Es geht den USA um Soft Power, um geopolitische Erwägungen.Aber am Ende war die ganze öffentliche Aufregung um Joe Bidens überraschenden Vorstoß ohnehin nur heiße Luft. Denn ob es jemals zu einer Aussetzung des Patentschutzes kommt, ist völlig unklar. Eine Konkretisierung der betroffenen Schutzgegenstände steht noch aus, der Aushandlungsprozess der WTO kann sich über Monate ziehen.
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