In 14 Tagen werden Sie keine DDR mehr haben

Vorgeschichte Der ehemalige DDR-Kulturminister Hans Bentzien über Stalins und Berijas Deutschland-Pläne, die am 17. Juni 1953 endgültig scheiterten

Hans Bentzien ...

....am 4.Januar 1927 in Greifswald geboren, besucht von 1941-44 die Lehrerausbildungsakademie in Rogasen und arbeitet nach seinem Dienst bei der Kriegsmarine als Lehrer in seiner Heimatstadt. Nach dem Studium der Gesellschaftswissenschaften wird er 1950 hauptamtlicher Funktionär der SED und ist von 1961- 1966 Kulturminister. Nach seiner Absetzung leitet er den Belletristik Verlag Neues Leben, bevor er 1975 zum DDR-Rundfunk geht und später stellvertretender Vorsitzender des Staatlichen Komitees für Fernsehen wird. Nach der Ausstrahlung zweier umstrittener Spielfilme verliert er seinen Posten, bleibt aber als Autor beim Fernsehfunk. Im November 1989 wird er schließlich zum Generalintendanten des DFF ernannt. Bis zu seiner Absetzung durch Ministerpräsident de Maizière (CDU) versuchte Bentzien, den DFF als öffentlich-rechtliche Säule neben ARD und ZDF zu etablieren.

FREITAG: Eigentlich sollte ein Ereignis in 50 Jahren ausreichend und verlässlich eingeordnet sein. Warum scheint das beim 17. Juni nicht der Fall zu sein?
HANS BENTZIEN: Weil es nicht reicht, nur über diesen einen Tag zu reden, sondern auch die Vorgeschichte erzählt werden muss. Eine Vorgeschichte, die ich der antifaschistisch-demokratischen Ordnung zurechnen würde. Stalin hatte in den Aufruf der KPD vom Juni 1945 hineingeschrieben, das Sowjetsystem sei für Deutschland nicht geeignet. Deshalb sprach bis 1952 auch niemand vom Sozialismus in der DDR.

Aber gingen die Kommunisten, die aus sowjetischer Emigration kamen und im Osten Deutschlands die Macht übernahmen, nicht wie selbstverständlich von einem nach Sowjetsystem umgebauten Deutschland aus?
Sie kannten die Weimarer Republik und wollten deren Fehler nicht wiederholen. Aber sie wollten zunächst auch keinen Sozialismus sowjetischer Prägung. Sie hatten in der Sowjetunion die Enteignung der Kulaken erlebt, das Stampfen von Fundamenten mit Strohbastschuhen, und wie immer wieder Genossen verschwanden - von 1.700 Emigranten kamen nur 700 zurück. Aber sie hatten keine präzise Vorstellung davon, wie das, was sie wollten, umzusetzen wäre. Insofern war die Richtschnur eben doch eine Art Sowjetsystem. Außerdem darf die Verantwortlichkeit der Sowjetischen Militäradministration, der SMAD, nicht übersehen werden. Dort kannte man wirklich kein anderes System. Die sowjetische Kontrollkommission, wie sie nach Gründung der DDR 1949 hieß, bestand aus 700 Fachleuten. Für die gaben die Landwirtschaft, Industrie oder das Schulwesen der UdSSR das Maß vor. Daraus entstand eine Art Oberregierung für die DDR.

Sie selbst waren damals in der SED-Bezirksleitung Gera und wollten, wie Sie in Ihren Erinnerungen schreiben, den Aufständischen entgegen gehen. Sie hätten versucht, Vernunft zu predigen. Was war für Sie damals vernünftig?
Der andere Ansatz. Ich gehörte zu der Generation, die aus dem Krieg kam. Wenn man den mitgemacht hatte, musste man einen neuen politischen Ansatz suchen. Der schien uns mit dieser Siegermacht und dem anderen Denksystem gegeben zu sein. Ich hatte das Glück, sehr gute Lehrer zu finden. Der eine, Otto Sepke, war Häftling in Buchenwald, der zweite, Max Burwitz, ein Schulreformer aus der SPD. Für sie gab es nur eins: das Leben musste anders organisiert werden. Das war unser Ziel.

Daher der Begriff "faschistischer Putsch"

Viele Menschen haben dieses neue Leben nie ohne Angst erlebt ...
Mir wurde noch in den fünfziger Jahren - nach Stalins Tod - in der Sowjetunion gesagt, man halte Deutsche generell für faschistoid. Das bedeutete, wenn einer die Anordnungen der SMAD nicht für richtig hielt, war er ein Faschist. Und manchmal verschwand er. Ein Protest, wie der um den 17. Juni 1953, der die DDR-Regierung samt sowjetischer Oberregierung in Frage stellte, wurde als Aufmarsch einer faschistoiden Bevölkerung gesehen. Daher der Begriff "faschistischer Putsch". Es gab ja auch - von wenigen Ausnahmen abgesehen - in der SED keine geschulten Leute, keine theoretische Arbeit. Wann denn, wie denn? Der Tag fraß die Leute auf. Die paar, die da waren - in meiner Heimatstadt Greifswald gab es acht Kommunisten und 16 Sozialdemokraten aus der Zeit vor ´33 -, hatten anderes zu tun.

War damit ein Scheitern der DDR schon programmiert?
Wenn man dabei ist, sieht man das anders. Da mussten Schulen geöffnet werden, Kinder eine anständige Ausbildung erhalten und etwas zu essen bekommen. Es war das Ereignis, wenn der Bäcker in der großen Pause kam und Salzbrezeln ausgab. Ich würde sagen, die ersten Schritte waren trotz allem gelungen. Es entstand eine Ordnung, die Sinn hatte.

Sie deuteten eingangs an, die Auffassung, der 17. Juni habe aus den Unruhen weniger Tage bestanden, sei nicht haltbar. Welche Koordinaten ziehen Sie heran?
Es ging 1952, drei Jahre nach Gründung beider deutscher Staaten, um eine Neuordnung in der Mitte Europas. Der Westen hatte den Eintritt in die Europäische Verteidigungsgemeinschaft EVG forciert, der Osten wurde fallen gelassen, der Antikommunismus blühte. Stalin und mit ihm Politiker der DDR waren aber der Meinung, dass in Potsdam 1945 von der Einheit Deutschlands ausgegangen worden sei. Außerdem war die DDR allein nicht lebensfähig. Ausgepowert durch Krieg und Reparationen machte sich das Fehlen ökonomischer Ressourcen bemerkbar: keine Rohstoffe, ein bisschen Kali ...

... aber Uran.
Das war kein Handelsartikel! - Rohbraunkohle. Weiter nichts.

Waren die Angebote zur Einheit Deutschlands mit der Stalin-Note von 1952 ernst gemeint? Viele westliche Chronisten bestreiten das
Die Vorschläge waren an die Alliierten, nicht an die Regierung in Bonn gerichtet. Und auch dort gingen seinerzeit keineswegs alle von einem Scheinmanöver aus. Die SPD zum Beispiel hat den Pariser Verträgen auch deshalb nicht zugestimmt, weil sie der Meinung war, man müsse ausloten, wie weit Stalin zu trauen sei. Es wäre damals eine Chance zur Einheit vorhanden gewesen. Stalin war bereit, die DDR aufzugeben.

Eine eben gegründete DDR mit einer neuen Elite an der Macht sollte abdanken und sagen: Danke, das war´s?
Das war der Preis. Der Vorschlag lautete: zuerst eine Koalitionsregierung, dann Wahlen, Abzug der Besatzungstruppen und dafür Neutralität. Also Blockfreiheit nach dem Beispiel Finnlands. Keine Armee, nur Polizeikräfte.

Folgt man Ihrer These, dann hätte ja eine der Forderungen des 17. Juni - die Einheit Deutschlands - geradezu willkommen sein müssen. Warum hat man dann die Leute nicht einfach marschieren lassen?
Das ist die Unlogik der Geschichte. Das Angebot war jedenfalls keine Mogelpackung. Ernst Lemmer (*) kannte DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl. Und der hat Lemmer einen schönen Gruß bestellen lassen. Die Antwort, überbracht durch eine Verwandte von Grotewohl, war: "Du musst sofort rüberkommen!" Es ging um Übernahme. Adenauer hat es auf den Punkt gebracht: "Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb!" Solange "ganz" nur unter der Bedingung eines gesamtdeutschen Neuanfangs zu haben war, wollte er nicht.

Aber warum hätte die Sowjetunion ihre Besatzungszone aufgeben sollen?
Weil ihre Sicherheitsinteressen tangiert waren. Sie hatte die Korea-Erfahrung. Die Amerikaner, die zunächst nur einen Fuß auf der koreanischen Halbinsel hatten, standen nun an der chinesischen Grenze. In der DDR konnte - so glaubte die Führung in Moskau - jederzeit etwas Ähnliches passieren. Was dort zu holen war, war geholt. Die 1953 noch etwa 100 SAG-Betriebe - die Wismut, Leuna, selbst die DEFA - lieferten direkt in die Sowjetunion, das waren die eigentlichen Reparationen. Auf die Dauer waren die Kriegsschäden so aber nicht zu beseitigen. Hinzu kam, dass die Bundesrepublik 1952 von der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft den Auftrag erhalten hatte, 14 Divisionen aufzustellen. Als wenig später Pieck, Ulbricht und Grotewohl nach Moskau reisten, kamen sie mit dem Beschluss zur Ausarbeitung eines Sicherheitskonzepts zurück. 300.000 Mann Armee, strenges Grenzregime ...

Die Kasernierte Volkspolizei klammern Sie aus?
20. 000 Mann. Die saßen zum Beispiel in Basdorf bei Berlin und waren nicht ausgebildet, die hatten gerade einmal Karabiner.

Aber sie waren beteiligt an der Niederwerfung des Aufstands.
Die kriegten das ja nicht in den Griff.

Das hört sich bisher fast so an, als hätte die DDR-Führung nur wenig Anteil am Geschehen gehabt.
Den hatte sie selbstverständlich, denn der Aufbau des Sozialismus sollte schnell erfolgen. Ökonomisch gesehen bedeutete das: Wenn ein Programm des Aufbaus einer Schwerindustrie aufgestellt wird, geht das zu Lasten der Konsumtion. Sozialismus, ein Begriff, der bis dahin bei vielen noch positiv besetzt war, wurde nun gleichgesetzt mit Verschlechterung der Lebenslage. Die Bauern wurden nicht deshalb gedrückt, weil sie Bauern waren, sondern mehr abliefern sollten, damit mehr in die Läden kam. Aber wenn das Soll erhöht wird, werden die "freien Spitzen" geringer und die Einkünfte auch. Und dann die Normerhöhungen - 500 Mark waren damals viel Geld für Arbeiter. Zehn Prozent höhere Normen konnten 50 Mark weniger bedeuten. Insofern war mit dem Beschluss, 1952 den Aufbau des Sozialismus zu verkünden, die Lage außer Kontrolle geraten, denn es gab keine Grundlagen für den Sozialismus. Um sie zu schaffen, wurden die Zwänge verschärft, anstatt eine demokratische Willensbildung zu beginnen und eine Korrespondenz zwischen Volk und Regierung herzustellen. Aber daran dachte niemand. Im Gegenteil, man tat so, als käme man mit der Normerhöhung einem Wunsch der Menschen nach und wollte das Ganze dann auch noch dem 60. Geburtstag von Walter Ulbricht widmen. Das alles ließ die Unzufriedenheit wachsen und wurde von verschiedenen Seiten kanalisiert. Nicht nur vom RIAS, auch die Geheimdienste aller Länder hatten in Berlin ihre Filialen und spielten mit. Anders ist nicht zu erklären, dass tatsächlich unisono eine Senkung der HO-Preise um 40 Prozent gefordert wurde, nie 30, nie 50.

Wie ordnet sich da das sowjetische Deutschland-Konzept ein, von dem Sie sprachen?
Die Order aus Moskau lautete erst, den Kurs eines forcierten Aufbaus des Sozialismus im Interesse der Schaffung eines einheitlichen Deutschlands fallen zu lassen. Ende Mai ´53 hieß es dann aber, schnell neue Normen, sonst bricht alles zusammen. Und danach plötzlich: Bloß nicht, es bricht. Dazu ist ein aufschlussreicher Dialog überliefert: Rudolf Herrnstadt, damals Chefredakteur der Zeitung Neues Deutschland, erbittet 14 Tage Zeit, um die Verkündung des Neuen Kurses vorbereiten zu können. Darauf der Hohe Kommissar Semjonow: In 14 Tagen werden Sie keine DDR mehr haben.

Soll das heißen, Semjonow plante einen 17. Juni?
Nein, aber er wusste um die Pläne des sowjetischen Innenministers Berija (**). Stalin war seit März ´53 tot, und Berija hielt sich für den einzig kompetenten Nachfolger.

Kanalarbeiter gegen Berija

Wenn ich Sie richtig verstehe, dann hat Berija die instabile Lage in der DDR bewusst zugespitzt, um gegenüber den eigenen Militärs zu begründen, dass man diesen Außenposten aufgeben müsse, sollte die Stabilität der Sowjetunion garantiert werden. Dagegen spricht aber, dass die Angebote zur Einheit nach Berijas Tod Ende ´53 wiederholt worden sind.
Aber es ging ja nicht nur um Deutschland allein, sondern einen Cordon Sanitaire aus Finnland, Schweden, Deutschland und Österreich, der dafür sorgen sollte, dass die Sowjetunion nur von neutralen Ländern umgeben ist. Es gibt im Übrigen einen Beweis für meine These: Sie stammt aus der Feder Generalleutnant Pawel Sudoplatows - der Mann fürs Grobe und ganz Geheime beim KGB, er war für die Ermordung Trotzkis zuständig - und ist in seinem Buch Handlanger der Macht abgedruckt. Da heißt es sinngemäß: Berija beauftragte mich im Mai 1953 mit der Vorbereitung streng geheimer Sondierungen zur Wiedervereinigung. Ein neutrales, vereinigtes Deutschland unter einer Koalitionsregierung sei der beste Weg, unsere Position in der Welt zu stärken. Berija sei von der Vorstellung besessen gewesen, dafür zehn Milliarden Dollar für den Aufbau der Sowjetunion zu erhalten. Dass dabei die deutschen Genossen auf der Strecke blieben, wurde akzeptiert. Es ging sowohl für Stalin wie für Berija um die Macht.

Entwerten Sie mit Ihrer Darstellung nicht den Protest der Straße?
Dieser Widerstand war vorrangig gegen die ökonomischen Zwänge gerichtet, denn alles Mögliche war zurück genommen worden, nicht aber die Normerhöhungen ... Robert Havemann ist damals auf ein Podest am Leipziger Platz gesprungen und hat den Demonstranten gesagt, wenn ihr die Einheit wollt, müsst ihr im Westen demonstrieren. Der RIAS hatte auf Generalstreik orientiert. Marschall Sokolowski, 1953 Oberbefehlshaber der Sowjettruppen in der DDR, berichtet in seinen Memoiren: Er und Semjonow hätten wie Kanalarbeiter gegen Berijas Pläne gearbeitet, um die Verhältnisse in Moskau zu wenden. Sokolowski ist es ja dann auch, der in der DDR am 17. Juni den Ausnahmezustand verhängt und aufmarschiert. Denn für die Armee galt: Sie steht vor Hamburg, warum sollte sie 500 Kilometer zurück nach Landsberg an der Warthe?

Berijas Pläne sind demnach am 17. Juni gescheitert?
Die sowjetischen Militärs, die Sieger des Zweiten Weltkriegs, waren die entscheidende Instanz dagegen.

Das Gespräch führte Regina General

(*) ab 1956 Bundesminister der CDU im Kabinett Adenauer

(**) Nach dem Tod Stalin im März 1953 Erster stellv. Ministerpräsident und Innenminister, unmittelbar nach dem 17. Juni 1953 von Chrustschow entmachtet und im Dezember 1953 erschossen.

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