In alter Zeit

Kehrseite I In alter Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, wünschte sich niemand etwas, denn es ging sofort in Erfüllung. Man musste jede Sekunde auf seine ...

In alter Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, wünschte sich niemand etwas, denn es ging sofort in Erfüllung. Man musste jede Sekunde auf seine Gedanken achten, sie materialisierten sich sofort.

Gerade hatte jemand noch gedacht: Ich bin heute so kaputt von der Arbeit, schon lag er ramponiert auf dem Gehweg. Oder jemand wünschte sich, sein Gegenüber möge endlich aufhören, ihm die Ohren voll zu labern, schon fielen ihm die Ohren ab.

Zum größten Problem wurden die vielen Toten. Sie lagen überall herum. Auf Straßen, in Autos, in Parks, in Wohnungen, besonders auch in Kindergärten. Es waren so viele, dass niemand sie mehr wegschaffen konnte. Und niemand konnte zur Verantwortung gezogen werden, denn jeder konnte jedem den Tod gewünscht haben. Die Gerichte schlossen, die Rechtsanwälte gingen in Konkurs.

Keiner sah den anderen mehr an, aus Angst, durch seinen Blick einen bösen Gedanken im Gegenüber auszulösen. Besonders das Autofahren wurde gefährlich, es löste so viele aggressive Wünsche aus.

Manche halfen sich, indem sie einfach schneller dachten als die anderen. Sie wünschten jedem, der ihnen begegnete, den Tod, so konnte ihnen niemand mehr zuvorkommen. Leichen säumten ihren Weg. Diese Schnelldenker wurden natürlich bald bekannt und man versuchte, ihnen auszuweichen. Festnehmen und einsperren konnte man sie nicht, jeder Polizist wäre sofort tot umgefallen. Die ganz Ängstlichen blieben zu Hause und verloren alle sozialen Kontakte.

Es schien, je böser man dachte, desto geschützter war man. Auch gutherzige Menschen bemühten sich nun um den einen oder anderen bösen Gedanken, um gewappnet zu sein. Es kamen Selbsthilfebücher heraus mit Titeln wie Die Kunst des schlechten Denkens oder Böse Wünsche in Minuten. Seminare mit Inhalten wie "Seien Sie böser als die anderen" fanden regen Zulauf. Manche Kirche bemühte sich noch, den Trend umzukehren. Wenn jeder gut dächte, predigten sie, hätte niemand mehr etwas zu befürchten. Aber keiner traute sich, damit anzufangen, zu viele lagen tot auf der Straße. Überhaupt schien es mühevoller, einen guten Gedanken zu fassen, während die bösen von ganz alleine kamen.

Irgendwann, von einem Tag auf den andern, hörte das Unheil plötzlich auf. Eine neue Zeit brach an, die wir alle kennen. In der das Wünschen und Hoffen und Bangen nichts mehr hilft. Was für ein Glück!

Sandra Niermeyer lebt und schreibt in Bielefeld. Zuletzt erschien im Freitag 07/2007 ihr Text Tarnkappe.


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