Um neun Uhr abends, wenn die Straßenlichter am Pont Marie oberhalb der Kathedrale von Notre Dame auf der Seine leuchten, breitet der 37-jährige Yan vor einem noblen Einrichtungshaus seine Pappkartons für die Nacht aus. Nebenan kriechen sie bereits in ihre Schlafsäcke. Eine ältere Frau sortiert Kleidungsstücke. In eine Bettdecke gehüllt liest ein Mann in den Sechzigern den Figaro, während besser situierte Pendler aus ihren Büros zur Metro eilen. Yan kommt aus Polen, ist Metzger und hat seine Ausbildung in einer Pariser Charcuterie gemacht. Gern würde er wieder in seinem Beruf arbeiten, doch Obdachlosigkeit verhindert das. „Man kann nicht mit Lebensmitteln hantieren, während man auf der Straße lebt. Das wäre einfach nicht hygienisch. Bei jedem Schlachthof blitzt man ab“, murmelt er.
Seit drei Jahren lebt Yan an den Ufern der Seine. Hin und wieder gibt es einen Gelegenheitsjob außerhalb von Paris auf einem Bauernhof. Mehr nicht. Solange Nachfröste ausbleiben, kann er es mit zwei Schlafsäcken und seinen Kartons aushalten. „Wenn es kälter wird, geht’s zum Schlafen runter in die Parkhäuser.“ Auch in die Metro? „Nein, nicht dorthin. Wegen des Lärms und des laufenden Betriebs kommt man da nicht vor ein Uhr nachts zum Schlafen. Und um fünf muss man schon wieder hoch.
Frisierte Statistik?
Neben Yan hat Igor seinen Platz, ein etwa 50-jähriger Maler und Dekorateur aus der Slowakei. Er erinnert sich, schon in Büros geschlafen zu haben, die er zuvor selbst gestrichen hatte. „Jetzt will ich einfach nur einen Job.“ Gibt es Ärger mit der Polizei? „Nein, sie gehen nachts hier Streife und sehen kurz nach, ob wir alle noch schön am Leben sind.“
Nicht weit entfernt von den Karton-Burgen an der Seine, im von den Sozialisten geführten Pariser Rathaus, wo vor dem Urnengang im nächsten Frühjahr bereits das Wahlfieber steigt, ist mancher der Meinung, Arme hätten es in Paris leichter als in den meisten anderen französischen Städten. Die soziale Versorgung in der Hauptstadt sei vergleichsweise gut, hört man. Doch Jahre nachdem Präsidentschaftskandidaten von links wie von rechts (zunächst der Sozialist Lionel Jospin, dann der Konservative Nicolas Sarkozy) versprochen haben, dass in Frankreich bald niemand mehr auf der Straße schlafen müsse, nimmt die Zahl derer draußen vor der Tür immer noch zu. Gleich mehrere Regierungen hintereinander haben es nicht geschafft, Obdachlosigkeit und Wohnungsnot zu begegnen. Auch ohne rundum aufklärende Statistik können sich viele Pariser des Eindrucks nicht erwehren, dass sie auf dem Weg von und zur Arbeit an mehr Schlafsäcken oder Matratzen in Hausportalen oder auf Parkbänken vorbeikommen als vor fünf oder zehn Jahren. Der nationalen Statistikbehörde zufolge ist die Obdachlosigkeit in Frankreich von 2001 bis 2012 um 50 Prozent gestiegen, besonders unter Ausländern und Frauen. Ende 2012 lebten in Frankreich insgesamt 145.000 Menschen ohne festen Wohnsitz. Wohlfahrtsverbände halten die Zahl für frisiert – es seien Hunderttausende, die auf der Straße leben müssten, von Obdachlosigkeit bedroht seien oder sich mit prekären Wohnverhältnissen abzufinden hätten.
Der Trick mit dem Pappschild
Der Soziologe Julien Damon erinnert daran, dass in Paris seit Jahrhunderten Menschen ohne festen Wohnsitz leben, es aber viele Gruppen gäbe, die nur für eine gewisse Zeit in der Stadt und auf der Straße blieben. Heute kämen zudem mehr Einwanderer aus EU-Ländern, die sich ohne eine Wohnung durchs Leben schlagen müssen. „Paris gilt als sehr tolerante Stadt, die großzügig Hilfe und sozialen Schutz anbietet“, meint Damon. „Sie ist vielleicht die Metropole in der EU, die für Obdachlose das meiste Geld ausgibt.“ Der Clochard werde in Frankreich weniger stigmatisiert als anderswo. „In London kann man in keinem Zelt schlafen und den ganzen Tag an einem Ort bleiben – in Paris schon. Betteln wird hier nicht kriminalisiert.“
Umfragen zeigen, dass die Franzosen Wohnungslosen gegenüber mehrheitlich positiv eingestellt sind. Sie halten Obdachlosigkeit zunächst einmal für eine Folge von Finanzkrise, Arbeitslosigkeit oder Wohnungsknappheit und geben den Betroffenen die geringere Schuld, selbst wenn Drogen oder Alkohol im Spiel sind. 2010 kam eine Umfrage zu dem überraschenden Ergebnis, dass 56 Prozent der Franzosen die Sorge umtreibe, eines Tages selbst obdachlos zu werden. 75 Prozent der Befragten fühlten sich mit Clochards solidarisch.
In den vergangenen zehn Jahren gab es immer wieder Proteste, wie etwa organisierte Zeltstädte, die in Paris auf die Not von Wohnungslosen aufmerksam machen sollten. Der Anwalt Joël Catherin versuchte dies auf andere Weise. Er begann damit, für die Obdachlosen in seinem Pariser Viertel neue Pappschilder zu schreiben. Das kam so: Ihm war eine ältere Frau aufgefallen, die in seinem Viertel in der Nähe der Kirche Madeleine auf der Straße schlief und tagsüber mit einem Pappschild auf ihre Not aufmerksam machte. Sie kam aus Rumänien, ihr Name war Ioana. An einem Abend im Winter entschloss er sich für Ioana ein neues Schild zu schreiben. Darauf stand nun in großen Buchstaben: „Ich könnte deine Großmutter sein.“
Es funktionierte – die Leute wurden aufmerksamer und warfen mehr Geld in Ioanas Tasse als je zuvor. Das ermutigte Joël Cathrin, er schrieb Schilder für weitere Clochards, mit denen er sich angefreundet hatte und die er immer wieder traf, um mit ihnen über Politik oder Fußball zu reden oder einfach nur Witze zu reißen. „Menschen brauchen eigentlich keine solchen Untertitel“, meint er. „Es geht darum, dass diese Schilder die Art und Weise verändern, wie Passanten auf Menschen reagieren, die am Straßenrand sitzen. Ihnen wird klar: Das sind menschliche Wesen. Es geht nicht ums Geld, sondern die Art, wie Menschen einander sehen. Manchmal fühlt es sich an, als seien diejenigen ohne Wohnung nichts weiter als Möbelstücke, die man auf die Straße stellt, damit sie irgendwer abholt.“ Sein mittlerweile berühmtes erstes Pappschild habe die Leute dazu gebracht, auf Ioana zuzugehen und ein bisschen freundlich zu sein. „Das gehört jetzt in unserem Viertel mit dazu.“
Angelique Chrisafis ist Frankreich- Korrespondentin des Guardian
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