In den Schuhen der Mütter

Ausstellung "Hausgemeinschaft (family Affairs)" in der Leipziger Galerie für Zeitgenössische Kunst regt zur Reflexion der eigenen Wurzeln und der aktuellen Lebenssituation an
Ausgabe 29/2013

„Bitte setzen Sie sich.“ Gleich zu Beginn der Ausstellung Hausgemeinschaft (family affairs) in der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig wird es persönlich. Angelika Waniek hat Zettel und Stift auf einem Tisch im Treppenhaus der Villa bereitgelegt: Erinnerungen an Eltern, Gerüche, Farben oder Orte können notiert, in einem Briefumschlag verstaut und in einer kleinen Holzkiste platziert werden. Wer sich auf dieses Experiment einlässt, darf den bereits erinnerungsgefüllten Umschlag eines anderen Besuchers mitnehmen.

Die Ausstellung fragt nach Erinnerungsmechanismen, Bedingungen des Erwachsenwerdens, dem Umgang mit familiären Veränderungen und Verlusten wie nach Alternativen des Zusammenlebens. Die Österreicherin Moira Zoitl, Kind des Jahres 1968, thematisiert einen Kinderladen, den ihre Eltern als alternatives Erziehungsangebot konzipierten: Auf einem Podest stehen stellvertretend für Kindermöbel unterschiedlichste Schemel zwischen Büchern aus der Bibliothek des Vaters, die mit Titeln wie Zur Psychologie des proletarischen Kindes oder Berliner Kinderläden von dessen intensiver theoretischer Auseinandersetzung wie der Ernsthaftigkeit des Vorhabens zeugen.

Rümpfen so manche Kunstkritiker und -historiker die Nase bei dem Versuch, sich den Arbeiten über die Biografie des Künstlers zu nähern, so ist dies hier in den meisten Fällen unerlässlich – ein Begleitheft liefert die nötigen Informationen. Ein Video von Matthias Zielfeld zeigt etwa die Terrasse eines Einfamilienhauses. Durch die scheinbar heimlich installierte Kamera ist zu beobachten, wie Stuhlkissen aufgelegt, der Kaffeetisch gedeckt und erste Gäste begrüßt werden – belanglos, so scheint es. Doch parallel läuft ein Predigtmitschnitt der Geschlossenen Brüder. Erst zum Ende der Ausstellung klärt eine weitere Videoarbeit diesen Zusammenhang: Der Künstler selbst ist im Sinne dieser christlichen Gemeinschaft erzogen worden. Seine Geschwister sprechen hier berührend offen über die bis ins Erwachsenenalter wirkenden Folgen der strengen Erziehung, in Form nacherzählter nächtlicher Albträume oder der greifbaren Angst vor dem Tod der Mutter.

Beinahe spielerisch geht Carola Dertnig mit diesem Lebenseinschnitt um: Sie filmte Kleidungsstücke ihrer verstorbenen Mutter ab. Zur Eröffnung im Juni trug sie ein Paar ihrer Schuhe und thematisierte so die kindliche Lust am Verkleiden und unbewusste Nachahmungsmechanismen. Die Stärke dieses Motivs wird eindrucksvoll von dem anonymen Erinnerungsbrief bestätigt, den die Autorin aus dem Holzkästchen zog: Hier schreibt eine Griechin, die bei ihrer Großmutter aufwuchs, wie sie mit Vorliebe die Hausschuhe ihrer Eltern trug.

Auch das Einheiraten in eine fremde Familienstruktur, Zukunftsvorstellungen von Jugendlichen sowie Homosexualität im Tierreich werden in der Ausstellung thematisiert – zumindest Letztgenanntes ist ein verzichtbarer Strang. Eindrücklich genug sind die Arbeiten, die dank der zum Teil intimen Einblicke der Künstler zur Reflexion der eigenen Wurzeln und der aktuellen Lebenssituation anregen. Oder wie das neonfarbene Wanddiagramm der Leipziger Andrea Günther und Philipp Rödel zum Abschluss fragt: „Mit wem verbringst du deinen Alltag? Mit wem teilst du körperliche Intimität – geistige Intimität (…)?“

Hausgemeinschaft (family affairs) Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig bis 29. September

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