Schon oft dachte ich, man müsste endlich einmal das unterirdische Deutschland erforschen, in Nazi-Katakomben, Gestapo- und Stasi-Keller, Luftschutz- und Atombunker diverser Regierungseliten hinabsteigen, um der Archäologie unserer jüngeren Geschichte auf die Spur zu kommen. Aber Plattenbauten tun es auch, in Berlin jedenfalls, wo unser 100-jähriges Elend - sei´s in Trümmern oder Monumenten, wilhelminischen Pracht- oder realsozialistischen Zweckgebäuden - noch immer üppig wuchernd an die Oberfläche drängt und dem Tageslicht den Weg versperrt.
In Friedrichshain steht so ein Ding, hinter dem Ostbahnhof, in der Straße der Pariser Kommune, die wirklich noch so heißt, weil die kapitalistische Raserei nach der Wende einige Reminiszenzen a
iszenzen an die historischen Alternativen großmütig am Leben ließ: ein realsozialistischer Zweck-Pracht-Plattenbau, der auch am Rande Moskaus oder in Nowosibirsk stehen könnte, in der DDR-Wirklichkeit aber das Neue Deutschland (ND) beherbergt hat. Das war ein aberwitziges Produkt, das äußerlich einer Zeitung ähnlich sah, aber keine war, sondern: das "Organ des Zentralkomitees der SED".Der alte Standort ist heute in eine Zeitspalte gerutscht: halb danteske Vorhölle, in der die letzten Nichtbekehrten ihre schwarzen Messen feiern, halb Wartesaal zum kapitalistischen Glitzerparadies, wo junge "Kreative", Maler, Musiker, Computerkünstler und Soundmaschinen-Bastler sich für den Kunstmarkt fit machen. Sandra Prechtel aus München und François Rossier aus der Schweiz, beide in Berlin lebend, haben über dieses seltsame Quartier und seine ungleichen Bewohner einen wunderschönen Dokumentarfilm gemacht, den der MDR am vergangenen Mittwoch erstmals ausgestrahlt hat.Der alte Kasten mit seinen endlosen Korridoren und halbleeren Büroetagen ist so abgrundhässlich, dass auch der geborene Optimist einer gewissen extremistischen Entschlossenheit bedarf - ob er nun auf den Sieg des Sozialismus in einer fernen Zukunft oder auf eine glanzvolle Karriere in einer nahen hofft. Wärme, Solidarität, Mitmenschlichkeit kommen da nicht so schnell auf - eher gespannte Wachsamkeit auf beiden Seiten. Jeder pflegt seinen Spleen, es herrscht die taubstumme Toleranz zwischen Parallelgesellschaften.Der "rote Walter", letztes Fossil aus der ND-Zeit, lobt die deutschen Sekundärtugenden und verstreut noch immer seine Sinnsprüche aus Marxens Kapital, doch seine Munterkeit ist gespenstisch abgestanden, seine Kumpelei merkwürdig ausgeleiert. Ein sanfter Mensch sammelt bergeweise Verpackungsmaterial aus der DDR-Zeit und zeigt es unfroh der Kamera - warum, wozu? Ein junger Pianist, der schon New York gesehen hat, sinniert über sein Leben "in den Ruinen einer verstorbenen Gesellschaft", und eine Videokünstlerin trotzt zäh und traurig der "Verneinung" ihrer DDR-Kindheit durch diejenigen, die heute den Ton angeben. Nachts zieht der Pförtner seine einsame Spur durch die neonbeleuchteten Flure, eine Redakteurin beschwört noch einmal (und verabschiedet endgültig) die utopischen Hoffnungen nach der Wende von 1989, ein klassenbewusster Typ aus einem der vielen Vereine, die im Haus heute residieren, lobt die Kalaschnikow und erwägt ihre Nützlichkeit für die kommenden harten Zeiten.So monadenhaft leben die Menschen im ehemaligen "Neuen Deutschland" oder im Deutschen Neuland, wie es die Filmemacher nennen, nebeneinander. Viel Altland - das Neue will so recht nicht werden. Unaufgeregt, nachdenklich und zur Einfühlung bereit betrachtet die Kamera die maroden Szenerien und wartet geduldig darauf, dass etwas passiert. Manchmal passiert etwas: eine Tür geht auf, und ein gebeugter Rücken schlurft über den Gang; Schultern, denen die politbürokratische Last der Jahre anzusehen ist. Jemand, der früher dem ND gedient hat und immer mal wieder vorbeischaut, schnuppert den alten "Geruch, der in den Fugen steckt und nicht rausgeht." Der Star des Films: ein früherer ND-Mitarbeiter, Parteimitglied war er nie (das fand er irgendwie lächerlich), stets pflichttreu, aber schwul und schon darum Außenseiter. Von seinem Balkon gegenüber dem ND-Bau beobachtete er mit dem Fernglas, wer ein und aus ging. Aus Versehen wurde er noch mit einem Orden ausgezeichnet, dann ging die DDR unter - und mit ihm sein Traum, im Innenhof eine Nische für seine Urne zu finden wie die Führer der Sowjetunion an der Kremlmauer. Heute gießt er seine Balkonpflanzen und lauscht weltabgewandt den herzzerreißenden Arien der Callas.Ein stiller Film - auch dann, wenn elektronischer Sound durch die Gänge dröhnt. Ein Film, der mit ruhiger Kamera lauter Einsamkeiten protokolliert, sie unkommentiert nebeneinander stellt und jede einzeln für sich stehen lässt. Manchmal wird es dunkel im Film, weil die Beleuchtung im alten "Neuen Deutschland" nicht mehr richtig funktioniert. Manchmal geht es nicht weiter, weil der Paternoster ausgefallen ist. Und manchmal tritt Schweigen ein, dann helfen ein paar Klavierakkorde dabei, in die Ruhe hineinzulauschen. Ein stiller Film: So sind wir Deutschen nun einmal. Da hilft kein Geschrei.