Gleich zwei selbstbewusste Aktualisierungen der Stücke des Bürgertumspropheten Henrik Ibsen sind in diesem Jahr nach Berlin eingeladen. Der Zürcher Volksfeind von Stefan Pucher spielt in einer nahen Zukunft, in der ein E-Government regiert und eine echte Begegnung zwischen Menschen fast subversive Züge trägt. Der Wiener John Gabriel Borkman von Simon Stone schickt einen nach Börsenkrach und Gefängnisstrafe verkrachten Antihelden durch den Schnee. Wieder einmal zeugt das Theatertreffen (gefeiert werden die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen einer Saison) von der Fähigkeit des Mediums, Fragen der Gegenwart künstlerisch eigenwillig zu verhandeln.
In der Abteilung abstrakte Kunst stehen sich mit Herbert Fritschs knallbunter Revue der die mann und Ersan Mondtags Familienhölle Tyrannis zwei Extreme gegenüber. Mondtag, 1987 als Sohn türkischer Einwanderer in Berlin-Neukölln geboren, Kollektivgründer, Mitglied des Regiestudios am Schauspiel Frankfurt und Regisseur am Thalia-Theater Hamburg, ist der Newcomer des Jahres. Tyrannis, nach eigener Idee am Staatstheater Kassel realisiert, provoziert mit der düsteren, extrem verlangsamten Performance eines videoüberwachten Familienpuppenhauses.
Tiefenbohrung in Karlsruhe
Wie auf Schienen bewegen sich die Figuren. Die Frauen tragen das Teppichmuster im Kostüm; welche Gewalt aus der Abschottung entsteht, ist nur zu ahnen. Sie bricht sich putzig Bahn beim rhythmischen Gemüsehacken. Die Schauspieler spielen mit auf die Lider aufgemalten Augen (blind!), Käuzchenrufe aus dem Birkenwald, blendendes Licht aus der Toilette, Musik und Sound ersetzen den Dialog. Irgendwann steht eine Fremde vor der Tür und fordert Einlass. Zusammenbruch und allmähliche Neuordnung der Gemeinschaft folgen. Christoph Marthaler, Vegard Vinge, Frank Castorf, Katie Mitchell und Susanne Kennedy stehen Pate, wenn Mondtag nicht ohne Witz alles streicht, was als dramatisch gilt.
Arrival Cities lautet in diesem Jahr der Schwerpunkt. Während in Karin Beiers Hamburger Inszenierung Schiff der Träume die Konfrontation moralisch desorientierter Wohlstandsbürger mit Flüchtlingen und deren „echten Problemen“ mangels Haltung enttäuscht, gelingt es Yael Ronens Ensemble am Maxim-Gorki-Theater in The Situation mit verblüffender Leichtigkeit, Vorurteilen mit konkreten Biografien zu begegnen. Dass ausgerechnet der Lehrer im Neuköllner Deutschkurs am Ende ein Musterbeispiel an Integration sein soll, schwere Kindheit im Gepäck, erinnert leider sehr an die übereifrige Pointe der Kultinszenierung Verrücktes Blut von Jens Hillje und Nurkan Erpulat, mit der Shermin Langhoffs Konzept des postmigrantischen Theaters vor einigen Jahren den Siegeszug angetrat. Schöner vorläufiger Höhepunkt des Treffens, das am 22. Mai zu Ende geht: Als Intendanten des Gorki-Theaters erhielten Langhoff und Hillje den Theaterpreis Berlin.
Noch eine Einladung ragte heraus, die des Dokumentartheatermachers Hans-Werner Kroesinger, der in Karlsruhe mit Staatstheater Stolpersteine NS-Geschichte vor Ort aufgearbeitet hat. In Briefwechseln und Dokumenten werden die Wege der im Zuge der Gleichschaltung entlassenen Künstler lebendig. Kultur, das wird hier konkret, ist immer auch Aktionsfeld und Instrument der politischen Klasse. Kroesinger gelingt ein unsentimentaler, höchst eindringlicher und komplex gewebter Theaterabend, eine Tiefenbohrung, die die Spuren der Geschichte bis in die Gegenwart hinein verfolgt.
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