In einer irren Welt

Literatur Der Linke Jan Korte fordert eine Politik, die die Ängste der Menschen ernst nimmt
Ausgabe 16/2020
Verpasst nie eine Gelegenheit, nach rechts auszuteilen: der parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion im Bundestag
Verpasst nie eine Gelegenheit, nach rechts auszuteilen: der parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion im Bundestag

Foto: Metodi Popow/Imago Images

„Niemals herabblicken“ hieß ein Aufsatz von Jan Korte von 2018. Angesichts der Krise sozialdemokratischer und linkssozialistischer Politik und des Aufschwungs der Rechten forderte Korte größere Aufmerksamkeit für all jene, die von den Zumutungen des Neoliberalismus betroffen seien. „Für mich und Teile meiner Freunde klingen Globalisierung und Europäisierung tendenziell gut, weltoffen und nach Reisefreuden. Für viele andere klingt es aber nach Bedrohung. Und das muss ernst genommen werden. Und schon gar nicht darf der Teil dieser Leute, der bei den Wahlen von der Linken zur AfD gegangen ist, abgeschrieben werden ... Politisch handeln heißt, mit Leidenschaft und Hingabe für den eigenen Standpunkt zu streiten, und zwar genau dort, wo er nicht vertreten wird.“

Der parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion im Bundestag wendet sich nun in seinem Buch Die Verantwortung der Linken zunächst an seine Genossinnen und Genossen und liest denjenigen die Leviten, die sich mitunter als die besseren Menschen fühlen als jene – drastisch ausgedrückt –, die nicht mit dem Fahrrad zum Bio-Laden fahren. Denn es gibt eine kulturelle Spaltung. Wie der Soziologe Andreas Reckwitz analysiert hat, gibt inzwischen eine neue Mittelklasse der akademischen Aufsteiger den Ton an, während die traditionelle Mittelklasse mit ihren Bedürfnissen nach Sesshaftigkeit und Ordnung materiell und kulturell einer Entwertung ausgesetzt ist. Noch stärker betrifft dies die seit den 80ern gewachsene prekäre Klasse, für die der Tausch „Mühsal gegen Status“ schon materiell nicht mehr funktioniert.

Wenn Korte in seinem Buch fordert, jene Menschen stärker ernst zu nehmen, die Angst haben: vor Wohlstandsverlust, Jobverlust „und Angst vor Einschränkungen, die sie nicht steuern können“, verlangt er also von den Angehörigen der neuen akademisch gebildeten Mittelschicht, von denen die Linke (mehr noch die Grünen) in den Städten vornehmlich getragen wird, nichts weniger als die Relativierung eigener Vorstellungen. Wichtig sei der Bezug auf die US-amerikanische Philosophin Nancy Fraser, die zeige, wie sich regressive Verteilungspolitik im Neoliberalismus durch progressive Anerkennungspolitik maskiert: „Viele Menschen verbinden die Einforderung und Durchsetzung von Minderheitenrechten mit der Epoche von Privatisierung und dem Abbau des Sozialstaates“ – und übersehen aufgrund ihrer ökonomischen Lage den zivilisatorischen Fortschritt, den diese emanzipatorischen Bewegungen bewirkten.

Die Kunst des Spagats

Es liegt auf der Hand, dass es „einen Zusammenhang zwischen dem Abriss des Sozialstaates und der Neuformierung der Parteienlandschaft gibt“, schreibt Korte und fordert „eine neue Ära der Solidarität“. Kunst des Spagats – nicht nur zwischen verschiedenen Milieus, Altersgruppen, zwischen Stadt und Land, zwischen Ost und West. Und auch über die Linke hinaus. Man fühlt sich an die Erfahrung der Runden Tische erinnert, wenn Korte von einem „Mitte-links-Lager“ spricht, in dem sich „alle Akteure darüber verständigen sollten, wer welche Rolle hat und wer welche Milieus, Schichten und Klassen gewinnen soll und kann“.

Aber wie soll das im täglichen Parteiengerangel, dem Kampf um Profilierung einzelner Personen, gehen? „Wir müssen den Zusammenhang zwischen Veränderungswünschen und Sicherheit in einer irren Welt besser antizipieren“: Ein Problembündel in einem Satz. Um die Hoffnung zu entwickeln, „dass es sich mit linken Mehrheiten eben doch besser leben lässt und dass die Zukunft keine Angst mehr macht“, bedarf es einer verbindenden Vision. Wie soll das gelingen? Wie könnte eine rot-rot-grüne Bundesregierung die Hoffnungen rechtfertigen angesichts der Macht des Kapitals? Mit welchen Gegenreaktionen wäre zu rechnen? Bedarf es einer noch breiteren Verständigung? „Niemals herabblicken“ wäre nur die Voraussetzung einer weitreichenden gesellschaftlichen Transformation. Leben ist das, was passiert, während du dabei bist, andere Pläne zu schmieden – diese Redewendung, John Lennon zugeschrieben, bestätigt sich in unseren Tagen.

Info

Die Verantwortung der Linken Jan Korte Verbrecher Verlag 2020, 136 S., 16 €

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