Die documenta 12 in Kassel bringt eine Menge vergessener Positionen ans Tageslicht, die durch das Raster des Kunstmarktes gefallen sind. Die Mehrzahl dieser neu entdeckten Werke stammen von Frauen. Wer hat schon von Graciela Carnevale, Lili Dujourie, Mira Schendel, Jo Spence, Mária Bartuszová, Bela Kolárová, Lee Lozano, Charlotte Posenenske, Eleanor Antin, Iole de Freitas und Lotte Rosenfeld gehört? Aber auch die jüngere Generation, vertreten durch Imogen Stidworthy, Hito Steyerl oder Zoe Leonard, ist an zentralen Stellen präsent. Die kontrovers diskutierte d12 (Freitag 25/2007) ist auch eine Documenta der Frauen, die lautlos den Beitrag von Künstlerinnen zur Kunstgeschichte der letzten fünfzig Jahre neu ins Blickfeld rückt.
Ein Angelpunkt d
Ein Angelpunkt der Kurskorrektur liegt in der Teilnahme von Trisha Brown und Yvonne Rainer, zwei Tänzerinnen, die in der Nachfolge von Merce Cunningham in den 1960er und 1970er Jahren den Tanz und damit auch die bildende Kunst sowie - was Rainer betrifft - den Film beeinflussten. Brown und Rainer gründeten 1962 das Judson Dance Theater, an deren Projekten auch die um diese Zeit berühmt gewordenen Künstler Robert Rauschenberg und Jasper Johns teilnahmen. Fast jeder beschäftigte sich mit Performance und Aktion, auch Leute wie John Cage, Andy Warhol und Claes Oldenburg. Interessant ist auch die Bedeutung des Tanzes für die Emanzipation von Künstlerinnen wie Yvonne Rainer. In einem langen Interview mit der Filmzeitschrift Camera Obscura von 1976 bekennt sie: "Mit sechzehn begann ich zu zeichnen und zu malen. Mein Vater, selbst ein enttäuschter Maler, entmutigte mich. Dass ich mich später total dem Tanz verschrieb ... hat wohl doch ein dynamischere Erklärung als den einer ideologischen Entscheidung. Ein Anziehungspunkt war, dass es in diesem Beruf erlaubt war, mit Männern zu konkurrieren."Für die österreichische Performance-Künstlerin Valie Export vertraten noch Ende der 1970er Jahre beide Kolleginnen eine dezidiert feministische Position: "Trisha Brown und Yvonne Rainier liefern Beispiele feministischer Tanzaktionen, die der Phallokratie entkommen sind." Dreißig Jahre später vermeiden die documenta-Macher solche radikalen Aussagen. Kuratorin Ruth Noack spricht lieber davon, dass sie und Roger M. Buergel kein Problem damit hätten, Frauen auszustellen. Noack weist daraufhin, dass es ihnen vielmehr wichtig erschien, zu zeigen, dass in der Kunst viele Dinge immer wieder neu entdeckt würden. So begann - der auf der d12 übrigens nicht vertretene - Tino Sehgal, der in London, Turin und Amsterdam das Publikum mit Handlungsfragmenten begeistert, mit absurden Choreographien, die er als immaterielles Konzept an Sammler verkaufte.Trisha Brown gehört zum Urgestein des postmodernen Tanzes. Sie gründete 1970 ihre eigene Dance-Company. In Roof and Fire Piece von 1973, das als Video in Kassel zu sehen ist, ließ sie Akteure auf den Dächern von New York alltägliche Bewegungen ausführen. Der Modern Dance hatte sich von den künstlichen Posen des Klassischen Balletts schon längst gelöst. Brown aber verschob die Bühne in den öffentlichen Raum. So ist es nur konsequent, wenn in Kassel die Besucher auf ihrem Rundgang förmlich in eine Tanzvorführung hineinrennen. Browns Installation Floor of the Forrest nimmt den zentralen Saal im ersten Stock des Fridericianums ein. Zu sehen ist ein Gerüst mit einem Netz aus Tauen, in die Kleidungsstücke eingeknotet sind. Stündlich führen männliche und weibliche Tänzer zwei Choreographien aus den 1970er Jahren aus, auf dem Gerüst und daneben. Die mechanischen, den Raum auslotenden Bewegungen, die verqueren, durch das Netz, die Ärmel und Hosenbeine gehemmten Körperpositionen, sie wirken heute wie Sinnbilder gesellschaftlicher Anpassung und Deformation.Die maßgeblich von Frauen in die Kunst eingebrachte Diskussion des Körpers (Body Art) ist bis heute aktuell. Etwa in der Installation von Hito Steyerl, die sich als Feministin bezeichnet. Dieses Statement mag zunächst verwundern, denn das Thema ihres Video-Screenings im dritten Stock des Fridericianums ist Bondage, eine japanische Fesselungstechnik, die erotischen Zwecken dient. Es steht aber nicht der Missbrauch des weiblichen Körpers im Zentrum ihres Interesses, sondern vielmehr schält sich ein allgemeineres Thema heraus. Dennoch legte Steyerl ihre Recherche als persönliche Geschichte an, denn sie selbst hat 1987 in Tokio als Bondage-Girl gejobbt und machte sich nun auf die Suche nach ihren Aufnahmen von damals. Persönliches und Allgemeines verfließen im sachlichen Dokumentar-Stil Hitos zu einer verblüffenden Collage. Mit ihrem Team suchte sie in Japan Archive und die einschlägigen Fotografen auf. Im Verlauf des Films fällt der Satz: "Gibt es so etwas wie Bondage nicht überall auf der Welt?" Es braucht gar nicht die dazwischen geschnittenen Szenen von Guantanamo, um die Idee der 1966 in München geborenen Filmemacherin zu verstehen. Gewalt und gesellschaftliche Einengung sind übergreifende Phänomene.Kunstvolle Knoten, Seile, die in das Fleisch einschneiden. Diese Bilder haben eine äußerst ambivalente ästhetische Note. Wer im Aue-Pavillon die in Deutschland völlig unbekannten Plastiken von Mária Bartuszová entdeckt, dem gelingt es vielleicht für einen Moment, die suggestiven Formen von der Ausbeutung des weiblichen Körpers zu trennen. Die slowakische Künstlerin, an deren Werk nach langem Schweigen vor zwei Jahren in der Nationalgalerie in Bratislava erinnert wurde, schuf in den 1970er und 80er Jahren runde, weich erscheinende Formen aus Gips, deren Einschnürungen durch reale Bindfäden oder Plexiglasscheiben betont wurden. Bartuszová beschäftigte sich aber nicht mit japanischen Fesselungstechniken, sondern mit Prinzipien der belebten und unbelebten Natur. Sie erzeugte absurderweise formale Spannungsmomente, die denen der Bondage-Meister ähneln - freilich ohne weibliche Opfer zu inszenieren. Gerät der Betrachter bei dieser Gegenüberstellung in die Falle der von Buergel propagierten "Migration der Formen" und vergleicht Äpfel mit Birnen? Hätten die Kuratoren die jeweils in völlig anderem Kontext entstandenen Arbeiten nebeneinandergestellt, hätte das sicher zu einer tödlichen Banalisierung geführt. Als formales Echo der jeweils anderen Arbeit steigern sie sich auf rätselhafte Weise.Frei von feministischen Ambitionen, aber auf andere Weise radikal ist das Werk von Charlotte Posenenske. Die 1930 in Wiesbaden geborene Schülerin des Malers Willi Baumeister, die bereits 1985 gestorben ist, gehörte in den 1960er und 1970er Jahren zu den wenigen Vertretern des Minimalismus in Deutschland. Sie hob mit ihren seriellen Werken die individuelle Autorschaft auf und delegierte sie - wenn möglich - an das Publikum. Ihre variablen, an Luftschächte erinnernden Skulptur-Formationen ließ sie meist von anderen zusammenbauen. Eine ihrer typischen Röhren hängt - leicht zu übersehen - über dem erwähnten Tanzgerüst von Trisha Brown. Kann man nicht machen, schallte es aus dem Mund vieler Kritiker, passt nicht. Alles ein einziges Missverständnis! Bei näherer Betrachtung macht diese Kombination doch Sinn und es entsteht ein Nachbild, das zu denken gibt. Denn die von der Industrie- und Technikbegeisterung der Nachkriegszeit inspirierten Werke von Posenenske können auch als eigenwillige Strukturen innerhalb allgemeiner Konformität gelesen werden. Die Avantgardistin stellte 1967 mit Hanne Darboven bei Konrad Fischer in Düsseldorf aus, doch der Erfolg interessierte sie nicht. Wenig später verabschiedete sie sich mit einem Manifest von der Kunst: "Es fällt mir schwer, mich damit abzufinden, dass Kunst nichts zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme beitragen kann," ließ sie die Öffentlichkeit über das Kunstforum International wissen und begann als 38jährige Soziologie zu studieren.Als persönliche Notwendigkeit dagegen fungierte die Kunstproduktion im Werk von Nasreen Mohamedi, 1937 in Karachi geboren, 1990 in Kihim gestorben. Die nach ihrem Tod aufgefundenen Tagebücher offenbaren, dass ihre kalligraphischen Ordnungsrituale sie von ihrer inneren Umruhe befreiten. "Ich fühle Wahnsinn in mir", heißt es in einer Eintragung von 1967, "aus diesen geballten Schwierigkeiten, Frustration und Verzweifelung, gelange ich zu etwas sehr Einfachem." In Indien gehört Mohamedi mit ihren ornamental-abstrakten Linienzeichnungen zum Kanon der Moderne. Auf der d12 sind ihre zarten Blätter eine Überraschung. Sie hängen neben dem Bild River von Agnes Martin aus dem Jahr 1964. Hier spielen die Kuratoren die strukturellen Ähnlichkeiten der beiden Positionen aus, denn beide Künstlerinnen gingen in ihrer geometrisch-abstrakten Arbeit von Naturphänomenen aus.Diese Gegenüberstellung scheitert nicht nur an den schlechten Lichtverhältnissen in der Neuen Galerie, sondern auch an der räumlichen Nähe, die die Unterschiede der formal sich gleichenden Arbeiten schluckt. Umso gelungener ist die Kombination einer quadratischen, wie Gewebe anmutenden abstrakten Zeichnung Mohamedis mit einem indischen Aquarell aus dem 19. Jahrhundert im Schloss Wilhelmshöhe, das eine Frau beim Spinnen zeigt. Es ergeben sich nicht nur Querverbindungen über die Analogie zwischen dem Spinnen von Fäden und dem Ziehen von Linien und Kurven, sondern auch auf gedanklicher Ebene. Mohamedi studierte westliche Kunst und fand zu ihrer persönlichen Ausprägung der Moderne. Die indischen Maler des "Company Painting" waren ebenfalls vom herrschenden Kunstverständnis Europas inspiriert und versuchten Maltechnik und das Postulat der Figuration mit nationalen Motiven zu verbinden.Auch wenn offiziell bei der d12 nicht von Feminismus die Rede ist, sind die Bezugspunkte doch eindeutig. Selbst die Brasilianerin Iole de Freitas, deren aus dem Fridericianum wachsendes Skulpturenband einhellig gelobt wurde, ist ausgebildete Tänzerin und tauchte in den siebziger Jahren im Kontext feministischer Aktionen auf. Die lange Liste "vergessener" Künstlerinnen und die breite Präsentationsfläche, die Ihnen und jüngeren Kolleginnen zur Verfügung gestellt wurde, sprechen für sich. Das nun auch noch pointiert feministische Positionen eingewoben worden sind in das Tableau der Ausstellungsmacher, fällt gar nicht mehr auf. Gemeint sind etwa die surrealistischen Foto-Sequenzen von Jo Spence. Die Britin inszenierte in den 1980er Jahren weibliche Körperbilder, die im krassen Widerspruch zum herrschenden Schönheitsideal stehen. Ohne Umschweife kommt hingegen Mary Kelly zur Sache. Sie organisierte anlässlich der documenta das nächtliche Happening Flashing Nipple mit hundert Frauen im Park Wilhelmshöhe, deren Brustwarzen mit Lichtern markiert waren. In der Dokumentation in der Neuen Galerie wirken die Lichtreflexe wie Glühwürmchen, die durch den öffentlichen Raum tanzen. Zu harmlos? Zu leicht? Zu unpolitisch? Vielleicht auch einfach nur subversiv.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.