Im Jahr 2010 machte Moritz von Uslar mit einer Reportage aus der ostdeutschen Kleinstadt Zehdenick Furore. In Nochmal Deutschboden trifft er die Protagonisten von damals wieder. Nicht selten in der Kneipe.
der Freitag: Herr Uslar, wie schmeckt Bier, das man mit einem Tauchsieder warm gemacht hat?
Moritz von Uslar: Ich habe das Gott sei Dank nie getrunken. In der Kneipe Schröder gibt es noch einen Tauchsieder hinter der Theke, der das Bier auf Zimmertemperatur bringt.
War das immer schon so, dass man es extra warm gemacht hat, oder hat man es einfach nur nicht kalt gestellt?
Früher haben die Kühlsysteme nicht funktioniert. Das lauwarme Bier war eine aus der Not geborene Tugend. Aber auch im Westen Deutschlands mögen es viele handwarm. Das ist eine Sache der älteren Gene
. Das lauwarme Bier war eine aus der Not geborene Tugend. Aber auch im Westen Deutschlands mögen es viele handwarm. Das ist eine Sache der älteren Generation. Die möchte ihr Bier eben in einer bekömmlichen Temperatur trinken.Als jemand, der in einer Kleinstadt im Ruhrgebiet aufwuchs, würde ich sagen, dass es im Buch nicht allein um den Osten geht, sondern um Deutschland.Hoffentlich. Immer wenn ich im Ruhrgebiet oder in Oberfranken unterwegs war, wo es eine weniger starke Infrastruktur gibt, habe ich Vergleichbares gefunden. Selbst in Berlin muss ich nicht lange suchen, um auf komplett andere Milieus zu stoßen. Zehdenick ist eine ehemalige Arbeiterstadt, um 1890 entdeckte man dort Tonvorkommen, in der Gründerzeit wurden in Zehdenick Ziegel gebrannt und über die Havel in die explodierende Großstadt Berlin gebracht. In der Nachbarstadt Gransee hat man völlig andere Strukturen. Das ist eine Ackerstadt mit einem anderen Menschenschlag, einem anderen Humor, einer anderen Trinkkultur. Wenn Politiker heute sagen: Wir müssen sehen, dass uns das Land nicht entgleitet, meinen sie den Gegensatz von Ost und West. Das ist aber nur einer. Es gibt auch den Gegensatz zwischen Stadt und Land oder den zwischen Großstadt und Kleinstadt. Das Buch fragt: Wo finde ich das neue Deutschland in einer Kleinstadt? Das soziologische Experiment besteht darin, den dort stattfindenden Alltag zu dokumentieren.Was hat sich in den zehn Jahren verändert?Das Deutschland, das ich beschreibe, ist ein anderes als vor zehn Jahren. Damals hat man die rechten Tendenzen als eine eventuell noch abklingende Stimmung wahrnehmen und missdeuten können. Heute leben wir in einem Land, wo es wieder einen rechten Terrorismus gibt und in dem es eine Partei gibt, die es vor zehn Jahren noch nicht gab: die AfD.Was hat das mit Ihnen gemacht?In Deutschboden ist die Stimmung hintenraus fast euphorisch. Mein damaliges Fazit: Das war ein herzerwärmendes und wundervolles Erlebnis, dass ich diese Leute kennenlernen durfte. Nun lautet das Fazit: Die Sicherheit, dass in diesem Land alles gut gehen wird, dass es mit diesem Parteiensystem und mit der parlamentarischen Demokratie hinhauen wird, ist weg. Das ist schon bedrückend.Waren Sie naiver, als Sie das erste Buch schrieben?Das würde ich sagen, ja. Ich finde ja auch, dass Naivität eine tolle Kraft in der Kunst sein kann. Sie gibt meinen Texten so etwas Parzivalhaftes – der Reporter ist der reine Tor. Man kommt irgendwo rein und sagt: Ich schiebe erst einmal zur Seite, was ich schon weiß, und beginne den Erkenntnisprozess von Neuem.Sie haben sich vor ein paar Jahren gegen den Vorwurf von Manja Präkels verteidigt, dass in „Deutschboden“ die Perspektive der Opfer rechter Gewalt fehle. Sie ist in Zehdenick aufgewachsen und hat die Bedrohung hautnah erlebt.Ich habe darauf hingewiesen, dass ihr Roman Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß in den frühen 1990ern spielt, mein erstes Deutschboden-Buch im Jahr 2009, also rund 18 Jahre später. Da ist es doch normal, dass man die Dinge anders erlebt.Mir kommt es aber so vor, als ob Sie sich die Kritik doch ein bisschen zu Herzen genommen haben. Im neuen Buch weisen Sie ausdrücklich auf den Roman der Kollegin hin und suchen das Flüchtlingsheim auf.Das wäre doch gar nicht schlecht, wenn ich etwas gelernt hätte. Manja Präkels hat ein wichtiges Buch geschrieben. Ich wollte ihm meine Reverenz erweisen.Die politischen Veränderungen im Land haben sich auch in Ihrem Tonfall als Autor niedergeschlagen.Ich habe ein bisschen einen anderen Sound erwischt. Das Buch ist journalistischer geworden. Es enthält Elemente einer politischen Reportage und ich spiele feuilletonistisch mit so Gedanken herum wie: Was ist die Ostidentität? Was sagt uns das, dass nach 1989 Geborene die DDR vermissen?Placeholder infobox-1Die Stelle, die mich am meisten angefasst hat, ist die, wo der ansonsten sehr sympathische Kneipenwirt Heiko Schröder erzählt, wie er drei schwarze Gäste nicht bedient hat. In der Kneipe gibt es eine Grundstimmung, die ihn genau das machen lässt, was er tut: die drei Jungs nicht zu bedienen. Das ist eine sehr starke Szene.Und sie ist bedrückend. Typisch für den Wirt Heiko ist, dass er einen humorigen Ausweg aus dieser Notlage sucht. Dieser Heiko ist offenkundig einer von den Guten, er ist kein Ausländerfeind – aber er ist eben auch der Wirt der Kneipe Schröder und muss diesen sozialen Raum irgendwie im Griff behalten. Und die Stimmung dort ist so, dass drei betrunkene Schwarze, die sich am Freitagabend ein Bier reinhauen wollen, nicht willkommen sind. Das sagt etwas über Rassismus in Deutschland aus.Das Phrasenmaterial, das dem Wirt zur Verfügung steht, stammt auch aus diesem Milieu. Bestimmte rassistische Floskeln, die er benutzt, würden Leuten aus einem linken Universitätskontext erst gar nicht einfallen.Man hätte sie nicht parat. Das sehe ich genauso. Ich habe auch vor zehn Jahren schon absolut trostlose Sätze zur Politik gehört.Zum Beispiel?„Die sind ja eh alles Kinderficker, die Politiker.“ Da habe ich gedacht: Wow, das ist eigentlich das Ende der Politik, wenn wir so reden. Da kann man nur noch standrechtliche Erschießungen machen oder sie ins Arbeitslager stecken. Diesen Sound trifft man heute viel öfter an. Die Leute reden anders. Das ist mehr als eine These des Reporters, das ist die Wirklichkeit. Der Ton hat sich verschärft. In dem Buch stehen ungefähr 50 Sätze, alles O-Töne, die ich vor zehn Jahren so noch nicht gehört habe. Ich schildere in dem Buch noch viel härtere Sachen, die ich auch in anderen Kneipen erlebt habe: dass Leute klatschen, wenn sie die Nachricht hören, dass Schlauchboote im Mittelmeer abgesoffen sind. Wenn so etwas in einer Kneipe geschieht, dann sagt das nicht nur etwas über die klatschende Person aus. Denn diese meint ja, dass sie den amtlichen Ton dort trifft. Sie glaubt mit dem übereinzustimmen, was dort gesagt werden kann oder muss. Sie wähnt sich als Teil einer ausländerfeindlichen Mehrheit.Nach der Lektüre könnte ein Parteistratege der AfD denken: Im Moment wählen uns 20 Prozent. Da ist noch viel mehr drin. Wir können den Ton anschlagen, der diese Leute erreicht. Die anderen Parteien können das nicht.Man kann sehen, dass mit dem Erfolg der AfD ein bestimmtes Vokabular hoffähig geworden ist. Sie setzt die Tabus weiter nach unten. Das kann man echt sehen. Andererseits gibt es in so einem Ort auch starke Gegenstimmen. 16 Jahre lang gab es einen erfolgreichen SPD-Bürgermeister, der in alle Schichten reinging und anerkannt war – bei Linken und bei Rechten.In einem Kapitel schildern Sieein Treffen mit lokalen AfD-Politikern. Aber dann wollen Sie mit denen über Themen wie Grenzschließung, die Aufhebung des Dieselfahrverbots, die Abwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, den ideologischen Umbau von Theatern, die Förderung von Braunkohle nicht reden. Wäre es nicht besser, genau darüber mit ihnen zu streiten? Ich sehe sonst die Gefahr, dass sich Leute unnötig und zu Recht nicht ernst genommen fühlen.Mir geht es nicht darum, zu zeigen, dass ich die beste und klügste Art habe, die AfD zu dechiffrieren. Die habe ich nämlich nicht. Mir geht es um die Frage, wie wir mit dieser Partei umgehen sollen: Ist es richtig, sich mit denen zusammenzusetzen, sie in Talkshows einzuladen oder ihnen mit Empörung zu begegnen? Soll man sie analytisch befragen, oder soll man, wie es der Reporter in meinem Buch tut, eine inhaltliche und ernsthafte Auseinandersetzung mit ihnen verweigern? Ich nehme mich zurück und lasse das Gespräch ins Leere laufen – wie in einem Experiment. Das fand ich in dem Moment richtig. Und ich fand es als literarische Methode produktiv.Das Unterlaufen von Erwartungen?Es geht darum, die Rollenerwartungen zu unterlaufen. Man sitzt da mit denen und sie erwarten ein konfrontatives Interview, und der Reporter fragt nur: „Und sonst so?“ Ich schalte ab, lasse sie ins Nichts laufen, verweigere die inhaltliche Auseinandersetzung. Es gibt eine Menge kluger Bücher, die versuchen, die AfD argumentativ und politisch zu stellen. Mir geht es darum, die Leere, Sprachlosigkeit und Absurdität von solchen Veranstaltungen, die Interviews mit AfD-Politikern oft darstellen, vorzuführen. In dem Moment, wo ich die drei treffe, ist der Reporter ja irgendwie auch eine hilflose Gestalt.Die Kneipen in ihren Büchern sind eine Männerwelt. Frauen bleiben in beiden Büchern weitgehend außen vor. Haben die keine Treffpunkte?Die Frauen treffen sich natürlich dauernd, aber eben öfter im privaten Rahmen. Sie kommen nicht in die Kneipe, ihre Treffen finden in Gärten oder in Wohnzimmern statt. Das ist eine Welt, die weniger öffentlich ist. Als Mann fällt mir der Zugang zu männlichen Welten naturgemäß leichter. Das hat auch mit meiner Recherchemethode zu tun. Ich dränge mich nirgendwo auf. Ich stehe einfach nur da und warte, bis ich angesprochen Werde. Frauen kommen genau da vor, wo ich sie an öffentlichen Orten antreffen konnte: in der Bäckerei oder – im Fall von Pretty Baby – in der Shisha-Bar. Dort, wo ich eine Frau antreffe, beginnen unmittelbar interessante Geschichten. Diese vergleichsweise neue Idee, dass sich die Qualität von Literatur nach Gender-Kriterien bemisst, scheint mir doch etwas komisch.
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