Inwinkunft, nachhaltige

Berliner Abende "Ich bin so müde vom Seufzen; ich schwemme mein Bett die ganze Nacht und netze mit meinen Tränen mein Lager". So sang ich den 6. Psalm bis in den ...

"Ich bin so müde vom Seufzen; ich schwemme mein Bett die ganze Nacht und netze mit meinen Tränen mein Lager". So sang ich den 6. Psalm bis in den Dezember hinein.

Mein Bundeskanzler, mein Bürgermeister, meine Bundesvorsitzende, mein Bsirske, meine Bank! Berlin schien am Ende, das Land dito. Fast gruselte man sich vor dem neuen Jahr. Doch dann ein Abend aus Verlegenheit, und in der Auferstehungskirche, nahe dem Friedrichshainer Volkspark, erstand mir aller Lebensmut neu und die Zukunft in strahlenverträglichem Licht. Ein Abend voller Nachhaltigkeit, Synergieeffekte, Innovationen, rücksichtsloser Verknüpfungen, ja Durchdringungen von Ökonomie, Ökologie, Tourismus, Kultur, Biopampe und Architektenwillen: 40 erlesene Projekte für Berlins Zukunftsfähigkeit aus der Kräuterküche des Institutes für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) und mit Talerchen der "Lotto - Stiftung" zur Wirkung gebracht.

Nur win-win-Projekte.

Zum Beispiel hat das Projekt "Shopping per Rad" nach jahrelangen Forschungen herausgefunden, dass wenige Radfahrer bei IKEA zu finden sind. Indes einige in Mitte. Dass das gemeine Rad durchaus zum Transport von 1kg Bioäpfeln geeignet ist, aber der Transporteur von Bierkästen eher ein stabileres Modell benutzen sollte. Gern schließen übrigens Radfahrer ihre Fahrzeuge an. Frau Cornelia R. empfiehlt den Händlern, vor ihren Läden dazu "Kreuzberger Bügel" zu installieren, was nun leider auf Grund des schockgefrosteten Bodens scheitern wird. Aber wenn er im Frühjahr sahnig wird!: Neue Bügel, neue Räder, neue Äpfel, stramme Waden und Lottomittel für die wissenschaftliche Crew. Win-win-win. Und der Kultursenator schleicht durch die Theater und dreht jede zweite Birne raus!

Gleich neben die Kreuzberger Bügel rammt dann die solarmove GmbH Stromzapfsäulen für Elektromotorroller. Ich meine, ich habe seit zehn Jahren, außer in Lifestyle-Magazinen, keinen Roller mehr gesehen. Aber das ist es ja: Zapfsäule-Elektroroller-Ökorollerunterwäsche-Ökorollerfahrerbioimbiss-drive-in: win-win-win. Und das mit Nachhaltigkeit. Die ist nämlich sofort dabei und drin. Aufs Wundersamste. Überall. Auch bei einem ganz neuen soziokulturellen Projekt fescher Ökoentrepreneure: Der Zukunftsspeicher am Kulturhafen Tempelhof, "wo mit allen relevanten Akteuren eine Vision für einen Begegnungs- und Marktplatz mit hoher Identitätsbildung im Bezirk lebendig werden soll." Voll Kultur und Wohnen und Kneipen und antiquarischem Handwerk ... Falliert alles gerade! Dachte ich eben noch. Dann aber das Wörtchen "nachhaltig". Die Winner aber auch! Ich muss Lotto spielen! Und diese kleinen, anrührenden Ideen, die ein langfristiges und mentales win-win versprechen: Der Klimaballon. Den kannst du aufblasen, bis er einen Durchmesser von 3,0 Metern hat, dann siehst du, was du pro Tag an CO2 ausstößt. Ohne deinen Atem! So baut ein jeder hier an der Verwirklichung der lokalen Agenda 21, eingedenk: "Johannisburg ist nicht mit der Messlatte von Rio zu messen" (was, zum Teufel, das auch immer heißen soll).

Es ist nicht möglich, die ganze Vielfalt des sich rechnenden Umsteuerns auch nur aufscheinen zu lassen. Die Versuche, die Kinder überall auf Körner zu setzen und teuere Fleischgaben sich selbst vorzubehalten (win-win), das kühne Projekt "Gender auf die Agenda", Frauen verdienen an Frauen, die sich dann besser fühlen (win-win), oder das "Nachhaltiger Konsum" - Projekt, ein Zauberding, dem sich Einzelhandelsverband und Konsumkanzler einmal annehmen sollten.

Wie man Reformen, die sonst all zu oft in die Mühlsteine der Politik geraten, mit einfachen Mitteln bewerkstelligen kann, zeigt das Projekt "Nachhaltige Energiebewirtschaftung in Berliner Krankenhäusern", wo mit Einsparungen signifikanter Größe das ungesund überheizte Krankenhauskleinklima heruntergeregelt wird, bis die fröstelnden Patienten einem früheren Verlassen der Anstalten zuneigen.

Als überlegener Winner indes präsentierte sich der Chef des Türkischen Bundes. Er hat seine Jungtürken zur Abgabe ihrer ausgelutschten Ghettoblaster-Batterien aufgerufen, und darauf gleich ein Umwelt-Fest vorm Schloss Bellevue gestartet, wo den ganzen Sommer Krach ist, weil die Curry-Wurst-Fresser von der CDU nicht ertragen können, dass der Muselmann in Familienformation sich da Leckereien grillt, von denen sie nur träumen können. Und dazu ist dann gleich der Umweltminister gekommen und hat mitgefressen. Öffentlich. Vorm Bruder Johannes - Fenster. Das ist win pur. Mit Nachhaltigkeit.

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