Die Inzidenz schnellt hoch, die Masken sitzen tief

Sachsen Wo besonders viele Ungeimpfte leben, erkranken besonders viele an Corona. Doch hinter den erschreckenden Zahlen geht das Leben weiter und die Tourist:innen strömen in die großen Städte
Ausgabe 46/2021
In Sachsen gibt es die Haltung, die Regierung habe kein Recht, Lebensweisen aufzudrücken
In Sachsen gibt es die Haltung, die Regierung habe kein Recht, Lebensweisen aufzudrücken

Foto: Jens Schlueter/Getty Images

Und wieder schafft es eine Zahl aus Sachsen in die bundesweiten Nachrichten: Im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge wurde Anfang dieser Woche eine Inzidenz von 1.362,4 gemeldet. Auch die Zahl der Covid-Infizierten ist im Vergleich enorm hoch – die Zahl der Geimpften hingegen extrem gering. Jedes vierte Intensivstationsbett wird von Covid-19-Patient:innen belegt. Das bedeutet: Kliniken sind überlastet. Operationen werden verschoben.

Hinter diesen Zahlen geht das Leben weiter. Tourist:innen strömen wieder in die großen Städte, erzählt ein Taxifahrer in Leipzig – erleichtert. Eine Trennwand gibt es in seinem Wagen nicht: „Das Virus passt allemal dran vorbei.“ Seit dem 8. November gilt die 2G-Regel; in Restaurants dürfen lediglich Geimpfte und Genesene. In öffentlichen Verkehrsmitteln sollen FFP2-Masken getragen werden. Fahrgäste nutzen lieber die OP-Masken. Manches Mal knapp die Oberlippe bedeckend.

Am Waffelstand in der Provinz legt die Verkäuferin die Hände zusammen und dankt: „Sie sind heute die Ersten, die eine Maske tragen!“ Geöffnet hat die Bude seit fünf Stunden. Hungrige stehen Schlange. In persönlichen Gesprächen geht es um Ängste. Und um Vorwürfe: Es gebe zu wenige Informationen zur Verlässlichkeit und zum Nutzen der Coronaimpfung. Und überhaupt, „man wird unter Druck gesetzt, sich impfen zu lassen“. Dabei sei das doch eine persönliche Entscheidung.

Die Zahlen aus Sachsen stehen schwarz auf weiß, aber für das Infektionsgeschehen und die polarisierte Gesellschaft gibt es nicht nur eine Erklärung. Sie setzt sich zusammen aus Erfahrungen und Lebensumständen. Eine feurige Melange.

Die Idee der Unsterblichkeit

Es gibt die Wut auf „die da oben“, einen Vertrauensverlust in die – nun ja – abwechslungsreiche Politik der schwarz-rot-grünen Landesregierung. Einerseits war Sachsen Vorreiter im Mahnend-den-Zeigefinger-Heben, etwa beim 15-Kilometer-Bewegungsradius im Frühjahr 2020. Anderseits war Sachsen groß im Wir-wollen-unser-altes-Leben-zurück: Als im Sommer zeitweise die Maskenpflicht in Supermärkten fiel.

Es gibt die Haltung, die Regierung habe kein Recht, Lebensweisen aufzudrücken. Einige führen dafür das Aufwachsen in einem Unrechtsstaat an. Andere zeigen einen Zusammenhang zwischen Impfverweigerung und dem Wählen der AfD.

Es gibt Erklärungsansätze für ländliche Regionen wie die Sächsische Schweiz oder das Erzgebirge mit den höchsten Inzidenzen. Wessen Verwandte nur Straßenzüge entfernt leben, sieht sich offenbar als Schicksalsgemeinschaft. Man hockt eng beieinander: „Wir kennen uns schließlich.“ Und tatsächlich geht das Russisch-Roulette gelegentlich gut und niemand steckt sich an. Das verstärkt die Annahme, das Virus sei längst nicht so gefährlich wie behauptet. „Bisher habe ich es ja auch nicht gekriegt.“ Diese gefühlte Wahrheit verleiht die widersinnige Zuversicht, wir Menschen müssten unsterblich sein.

Es gibt kaum echte Einschränkungen im Alltag: Ob geimpft, genesen – eines wird schon zutreffen. Dass in Sachsen Nachweise kontrolliert werden, ist selten. Dass Nachweise wirklich geprüft werden, also etwa zusammen mit einem Personalausweis vorgezeigt werden müssen, hat beinahe Lottogewinn-Seltenheit.

Aber: Nur sächsischen Impfverweigerern die Schuld in die Schuhe zu schieben, wäre der zweifelhaften Ehre zu viel. So besonders, so anders, so alleinstellungsmerkmalig ist der Freistaat dann doch wieder nicht. Die vierte Coronawelle rauscht auch anderswo. In Bayern zetern die Coronakritiker:innen ebenso. Auch in Nordrhein-Westfalen muss sich erklären, wer vorsichtig bleibt. Überall gibt es Menschen, die sich Informationen über Virus und Krankheit verweigern, weil sie sich nicht belasten oder sorgen wollen.

Unser größtes Problem ist länderübergreifend – unsere Unvernunft. Wir wissen oft, was gut wäre, entscheiden uns dennoch dagegen. Wir verschließen die Augen vor der Zukunft, um im Hier und Jetzt Spaß zu haben – oder wenigstens: weniger Verzicht –, statt uns für eine mittelfristig bessere Lösung zu entscheiden. Das gilt nicht nur für Ungeimpfte. Die fehlende Motivation, sich im Interesse von Kindern und Pflegenden einzuschränken, zeigt sich auch bei Geimpften: in ihrer Ignoranz, dass auch sie das Virus weitertragen.

Schlau werden wir Menschen erst aus Erfahrung, heißt es. Viele kennen angeblich keine Covid-19-Opfer. Zumindest daran werden die kommenden Wochen etwas ändern, leider. Nicht nur in Sachsen.

Insa van den Berg lebt und arbeitet als freie Journalistin in Leipzig

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