Irgendwann kommt alles wieder hoch

IGNATZ BUBIS Günter Gaus im Gespräch mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland,

Ignatz Bubis, aufgezeichnet im Dezember 1996

GÜNTER GAUS: Zuweilen hat man den Eindruck, Sie lassen gern einen Vorhang herunter und wirken deshalb wie jemand, der sich hinter einer Glätte verbirgt. Und dahinter liegt möglicherweise sehr viel Verletzung, während Sie in der Regel gelassen und kühl erscheinen. Ist das richtig?

IGNATZ BUBIS: Nein, ich glaube nicht. Ich würde mich in mir selbst täuschen, wenn ich mich so sehen würde. Ich versuche, nicht immer voller Ernst zu erscheinen. Wenn ich zum Beispiel über das Thema »Juden und Deutsche« rede, versuche ich das Ganze mit Humor zu nehmen.

Und der Humor geht Ihnen nie aus?

Gottseidank, bis jetzt nicht.

Ist nach Ihrem Eindruck die Zahl der Antisemiten in Deutschland mit dem zeitlichen Abstand zu Auschwitz größer geworden?

Nein, aber auch nicht kleiner. Wahrscheinlich war die Zahl der Antisemiten selbst im Nationalsozialismus nicht einmal größer. Es hat sich vielleicht ein wenig verschoben. Den ausgesprochen rassistischen Antisemitismus jedoch, den hat es in der Zeit des Nationalsozialismus stärker gegeben, jetzt weniger.

Manchmal frage ich Leute - Juden und Nichtjuden -, ob sie Angst haben vor gewissen Entwicklungen, und dann sagen inzwischen doch ziemlich viele, ja, sie hätten Angst. Haben Sie manchmal Angst?

Nein, aber ich bin grundsätzlich kein ängstlicher Mensch, außerdem eher ein Optimist als ein Pessimist. Ich habe diese Angst vor allem deshalb nicht, weil wir diesen gleichen Antisemitismus, den es in Deutschland gibt, auch in anderen Ländern haben. Es gibt kaum ein europäisches Land - mit Ausnahme von Dänemark und Bulgarien -, in dem der Antisemitismus schwächer wäre als in Deutschland.

Wie konnte es dann sein, daß die Deutschen es waren, die Auschwitz zustande gebracht haben?

Da unterscheide ich mich von Daniel Goldhagen - ich kann es nicht erklären. Ich kann es wirklich nicht. In Deutschland hat es den genuinen oder Ausrottungs-Antisemitismus bis zu Hitler nicht gegeben. Wenn wir andere Länder nehmen, zum Beispiel Frankreich, dann war der Antisemitismus dort in der Zeit zwischen 1870 und 1914 viel stärker als in Deutschland.

Das heißt, Auschwitz ist in jedem Lande möglich.

Ich fürchte, ja. Goldhagen sagt ja auch, es müssen nur einige Faktoren aufeinander treffen. Und in Deutschland sind diese Faktoren zusammengekommen. Ich sehe das nicht so wie er, aber bin der Auffassung, es könnte überall passieren, auch noch in der Zukunft.

Jetzt gibt es wie immer 28.200 Möglichkeiten, Ihre Antwort zu interpretieren. Begnügen wir uns mit zwei. Erste Möglichkeit: Sie sind ein politisches Urgestein, und es ist aus politischen Gründen gut, wenn man diese Antwort gibt, nämlich eine kommuniquéhafte, bekömmliche, wohlklingende, aufbauende Erklärung. Zweite Möglichkeit - es ist ein bißchen wie Pfeifen im Walde. Sie machen sich selber froh.

Das will ich nicht ausschließen.

Aha, Treffer - wie erklären Sie Antisemitismus?

90 Prozent Vorurteile, 60 Prozent Unwissen. Aberglauben, alles Mögliche. Aber das Entscheidende sind Vorurteile, an die man sehr schnell glaubt nach dem Motto, es wird schon etwas davon stimmen.

Viele israelische Staatsbürger meinen, warum lebt Ignatz Bubis ausgerechnet in Deutschland, er gehört nach Israel. Was antworten Sie ihnen?

Daß sie emotional sicher recht haben. Auch mich kann diese Frage emotional stark beschäftigen, aber nicht bedingt durch das tägliche Leben. Sich irgendwo zu Hause zu fühlen, das ist etwas, das entsteht. Und ich habe mich - so schlimm es vielleicht für manchen Überlebenden des Holocaust klingt - ich habe mich in Deutschland, als ich 1945 nach einer vierwöchigen Reise durch Israel zurückgekehrt bin, eigentlich nicht um hier zu bleiben, doch schnell zu Hause gefühlt. Das lag gar nicht einmal an dem Begriff Deutschland. Als ich in Berlin gelebt habe, habe ich mich in Berlin wohl gefühlt. Ich habe mich in Pforzheim nicht zu Hause gefühlt, dort auch nicht lange gelebt. Und ich habe mich in Frankfurt wieder zu Hause gefühlt.

Was bedeutet für Sie Judentum?

Judentum ist ein Stück Tradition. Ich muß vorausschicken, wenn meine Eltern katholisch gewesen wären, wäre ich wahrscheinlich dem Katholizismus verbunden. Aber ich bin anders erzogen worden und habe das Judentum kennengelernt. Und im Judentum gibt es etwas, was kaum in einer anderen Religionsgemeinschaft vorhanden ist: die Bindung, füreinander da zu sein, ganz egal, ob man nun ein religiöser Jude oder ein Reformjude oder ein Liberaler ist. Und das mag damit zusammenhängen, daß es 2.000 Jahre Diaspora und Verfolgung gab. Das schärft ein Zusammengehörigkeitsgefühl.

Seit 1992 sind Sie der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, was ist Ihr vorrangiges politisches Ziel?

Ich habe mir eigentlich keine Ziele gesetzt, ich habe nur gemerkt, daß sehr viel Unverständnis der Bevölkerung, besonders junger Menschen, bei der Frage vorhanden ist: Was ist Judentum? Junge Menschen erfahren heute sehr viel über den Holocaust, aber wenig über das Judentum. Daher versuche ich, es zu öffnen. Nicht, indem alle zum Judentum kommen sollen, aber ich versuche es so zu öffnen, daß es nichts Fremdes ist.

Ihre Muttersprache war jiddisch?

Ja, ich bin jiddisch aufgewachsen.

Sie können das noch sprechen? Tun Sie es manchmal?

Aber sicher. Mit meiner Schwiegermutter rede ich nur so. Mit meiner Tochter aus Jux, sie versteht alles, aber spricht es nicht.

Spielen Sie gern in der politischen Bundesliga mit? Sie sind schließlich der oberste Sprecher der Juden, haben Sie Spaß daran?

Es leben derzeit etwa 60.000 Juden in Deutschland, einschließlich der Zuwanderer - und da gibt es 40.000 Meinungen. Und da erwartet jeder, daß die Meinung, die ich nach außen vertrete, die seine ist. Und ich habe gottseidank noch meine eigene ...

1992, als Sie Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland wurden, sind Sie auch als ein möglicher Bundespräsident genannt worden. Sie haben sogleich abgewinkt und gesagt, soweit, daß ein Jude Bundespräsident werden könne, sei es noch lange nicht. Heißt das, zu Ihren Hoffnungen gehört, eines Tages ist das selbstverständlich möglich?

Sicher - es hat vielleicht im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland nur einen gegeben, bei dem es schon damals gegangen wäre, das war Herbert Weichmann ...

... der Hamburger Bürgermeister.

Ja, aber ansonsten fällt mir im Moment wirklich keiner ein. Ich war und bin viel zu sehr Jude, was für Herbert Weichmann zu keinem Zeitpunkt galt. Andererseits, kein Mensch wird sich dafür interessieren, ob der Bundespräsident katholisch oder evangelisch ist. Aber, wenn Bischof Lehmann in Betracht käme, würde man das mit Katholizismus identifizieren. So hätte man es bei mir zu sehr mit Judentum identifiziert - und das ist nicht gut.

Die große Hoffnungsbotschaft, die Sie nach meinem Verständnis zu erkennen geben, lautet: Wir sind nichts anderes. Es wäre schön, wenn die ganz große Mehrheit das so empfände. Glauben Sie wirklich dran?

Nein, die Mehrheit empfindet das nicht so. Keinesfalls.

Was sagen Sie zum Historiker-Streit, dem Versuch, Auschwitz zu relativieren und als Folge von etwas auszugeben, was den Deutschen angetan wurde, als Folge des asiatischen Verbrechens des GULAG ...

Da gibt es Versuche der Erklärung - nicht der Reinwaschung. Versuche in zwei Richtungen, die eine will das Geschehene aus einem schlechten Gewissen heraus relativieren, und die andere hat versucht, Auschwitz wider besseres Wissen zu verharmlosen ...

Kann es nicht auch sein, daß nicht aus schlechtem Gewissen, sondern aus dem Motiv gehandelt wird, wir sind das Salz der Erde?

Ja, aber das hat sich erst entwickelt. Wenn genug Zeit vergangen ist, sieht man das Ganze in einem etwas anderen Licht und dann sagt man gleichzeitig, eigentlich gab es doch auch noch andere Verbrechen. Weshalb soll ich mich als der Verbrecher fühlen, auch wenn ich ein Verbrechen begangen habe, und der andere, der auch ein Verbrechen begangenen hat, über den wird heute gar nicht mehr gesprochen.

Sie haben oft gesagt, Sie hätten über Jahre hin das Entsetzen der Verfolgung verdrängt. Sie hätten Gespräche darüber im Familienkreis vermieden. Hat sich diese Verdrängung inzwischen gelöst durch das eigene Älter-werden?

Nach 1945 hätte ich ohne dieses Verdrängen und nicht Wahrhaben-wollen nicht weiterleben können. Heute, im Abstand von 50 Jahren, komme ich eher dazu, darüber nachzudenken. Und irgendwann bei einem bestimmten Anstoß kommt am Ende doch alles wieder hoch. Nur wenn das 50 Jahre später passiert, ist der Abstand groß genug, um damit noch leben zu können.

Was ist mit Mölln, mit Rostock, mit Lübeck, mit dem, was sich in Deutschland an Gewalt gegenüber Fremden heute wieder stärker zeigt als vorher?

Das sind Perioden, bei denen sich auch etwas anderes zeigt: Mölln, Rostock, Lübeck wurden von der Gesellschaft verurteilt. Das war der Unterschied zur Zeit des Nationalsozialismus, als sich kaum jemand aufgelehnt hat. Natürlich war während des Nationalsozialismus der Terror staatlich gewollt - heute sind die von Ihnen erwähnten Ereignisse für den Staat ein Verbrechen. Die Frage ist, ob die Gesellschaft diese Vorgänge heute deshalb als Verbrechen sieht, weil sie der Staat als Verbrechen bekämpft, oder ob dies aus innerer Überzeugung geschieht. Aber aus meiner optimistischen Einstellung heraus sage ich, es passiert aus innerer Überzeugung.

Könnte es sein, daß beim Weltgericht eines Tages gesagt wird, Du warst zu optimistisch?

Das will ich nicht ausschließen, aber was bleibt mir anderes übrig?

Gekürzte Fassung eines Gesprächs, das für die ORB-Reihe »Zur Person« geführt wurde

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