FREITAG: Sie waren für den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr, als im Dezember 2001 zum ersten Mal darüber abgestimmt wurde - jetzt sind Sie gegen die Verwendung deutscher Tornados im Süden des Landes. Was macht für Sie den Unterschied aus?
PETER GAUWEILER: Der Unterschied ist ein ganz wesentlicher. Der Einsatz ab Ende 2001 war ein Akt der Selbstverteidigung der Vereinigten Staaten nach dem 11. September. Es war klar, dass die damals in Afghanistan regierenden Taliban für diesen Terroranschlag mitverantwortlich waren oder zumindest nichts dagegen unternommen haben, dass er in ihrem Land vorbereitet wurde. Die NATO erklärte den Bündnisfall und kam den USA am Hindukusch vertragsgemäß zu Hilfe. Auf dieser Grundlage fiel im Bundestag im Dezember 2001 die Entscheidung, die ich damals - ähnlich wie auch Oskar Lafontaine - unterstützt habe, wenngleich wir beide seinerzeit keine Abgeordneten waren.
Dieses Mandat wurde im Jahr 2002 durch den von den Vereinten Nationen gebilligten und im Bündnis mit der afghanischen Nordallianz bewirkten Sturz der Taliban-Regierung vollzogen. Neuer Auftrag der NATO im Rahmen des ISAF-Mandats der UNO war es in der Folge, die afghanische Regierung bei der Sicherung der Hauptstadt und des Landes zu unterstützen.
Auf dieses ISAF-Mandat bezieht sich die Bundesregierung bis heute.
Aber die Rahmenbedingungen haben sich geändert, und zwar inhaltlich wie formal. Zum einen hat sich die Situation in Afghanistan irakisiert. Es herrscht Bürgerkrieg. Der Frontverlauf, der dem Eingreifen 2001/2002 Legitimität verlieh, hat sich geändert. Nicht mehr - wie damals - Taliban gegen Nordallianz. Stattdessen ein schwer durchschaubarer Stammeskonflikt, bei dem die Paschtunen als größte Volksgruppe gegen ihre Benachteiligung durch die Zentralregierung aufbegehren. In diesem neuen Konflikt kann die NATO sich nicht mehr auf eine Seite stellen. Angesichts verheerender Lebensverhältnisse kommt es zu Widerstandshandlungen, die man nicht ohne weiteres als Terrorismus einstufen darf. Zum zweiten erscheint es mir problematisch, wenn sich NATO und Bundeswehr als militärische Unterstützung der Regierung betätigen. Die Regierung von Präsident Karzai ist mit dem organisierten Verbrechen und besonders mit dem Heroinhandel auf eine Weise verbunden, die indiskutabel ist. Kabul ist zu einem Tummelplatz für Drogenbarone geworden, die sich dort ausgerechnet unter dem Schutz der NATO breitgemacht haben.
Wenn sich die NATO zurückzieht, ist sie gescheitert, behaupten die Fürsprecher des Einsatzes am Hindukusch.
Die Frage einer deutschen Beteiligung muss sich auf der Grundlage von Recht und Gesetz, auf der Grundlage unserer Verfassung vollziehen. Franz Josef Strauß hat einmal gesagt: "Es ist die Tragik der Bundeswehr, dass sie gegründet wurde, um nicht eingesetzt zu werden, aber das ist auch ihre Größe."
Trotzdem war Strauß immer für die NATO.
Zu seiner Zeit war die NATO ein Verteidigungsbündnis, das die westliche Hemisphäre und die westlichen Werte vor einem Angriff, insbesondere des Warschauer Paktes, schützen sollte und entsprechend geografisch begrenzt war. Diesem Bündnis ist die Bundesrepublik 1955 mit einem Zustimmungsgesetz beigetreten. Von den Vorstellungen, die sich der Gesetzgeber damals machte, hat sich die NATO nach 1990 weit entfernt. Folgerichtig mussten die Verfassungsrichter in Karlsruhe seither zwei Mal über die Rechtmäßigkeit deutscher Beteiligungen an NATO-Einsätzen befinden. Zum ersten Mal 1994, damals ging es um die Beteiligung an Blockademaßnahmen gegen Jugoslawien. Schon zu diesem Anlass haben vier der acht Karlsruher Richter erklärt - darunter mit Jutta Limbach eine Sozialdemokratin und mit Konrad Kruis ein CSU-Mitglied -, dass diese Blockade durch den NATO-Vertrag nicht gedeckt sei. Das Votum kam nur deswegen nicht zum Tragen, weil bei Stimmengleichheit die damalige Verfassungsbeschwerde abzulehnen war.
Bekanntlich hat sich die NATO dann 1999 eine neue Charta gegeben und sich neu definiert: Weg von der Verteidigungsallianz im nordatlantischen Raum hin zum Interventionsbündnis weltweit.
Der Jugoslawien-Krieg war in dieser Hinsicht ein unguter Anfang. Auf dem NATO-Gipfel im April 1999 - auf dem Höhepunkt der Bombenangriffe gegen Serbien und Montenegro - wurde die militärische Eingriffsmöglichkeit des Bündnisses auf Fälle der "Konfliktverhütung und Krisenbewältigung" ausgedehnt. In dem Beschluss dazu heißt es, ich zitiere daraus: "Im Zuge ihrer Politik der Friedenserhaltung, der Kriegsverhütung und der Stärkung von Sicherheit und Stabilität wird die NATO in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen darum bemüht sein, Konflikte zu verhüten oder - sollte eine Krise auftreten - in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht zu deren wirksamer Bewältigung beitragen, einschließlich durch die Möglichkeit der Durchführung von nicht unter Artikel 5 fallenden Krisenreaktionseinsätzen."
Diese Erweiterung des strategischen Konzepts über die ursprüngliche Landesverteidigung hinaus erfolgte, anders als 1955, ohne ein ausdrückliches Zustimmungsgesetz in Deutschland. Dagegen richtete sich eine weitere Klage vor dem Verfassungsgericht - und auch diese scheiterte. Allerdings sollte man beachten, dass die Karlsruher Entscheidung im November 2001 fiel, acht Wochen nach dem 11. September. Gegen den weltweiten Terrorismus müsse die NATO weltweit eingreifen können - das war die Stimmung in jenen Wochen.
Aber mit dieser zweiten Entscheidung in Karlsruhe waren doch alle Messen gesungen, und Sie und andere können sich bei Ihrer Ablehnung von Einsätzen wie in Afghanistan zwar noch auf politische, aber nicht mehr auf verfassungsrechtliche Argumente stützen - oder?
Nein, denn das Bundesverfassungsgericht hat bei der Entscheidung im November 2001 klargestellt, dass - ich zitiere wieder - "die Zustimmung der Bundesregierung zur Fortentwicklung eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit nicht die durch das Zustimmungsgesetz bestehende Ermächtigung und deren verfassungsrechtlichen Rahmen gemäß Artikel 24 Absatz 2 des Grundgesetzes überschreiten darf". Außerdem, "dass der Bundestag in seinem Recht auf Teilhabe an der auswärtigen Gewalt verletzt wird, wenn die Bundesregierung die Fortentwicklung des Systems jenseits der ihr erteilten Ermächtigung betreibt." Das Bundesverfassungsgericht machte damit klar, dass das alte NATO-Zustimmungsgesetz nicht grenzenlos alle Veränderungen des NATO-Vertrages umfasst und dass wichtige Weiterungen eines erneuten Votums des Gesetzgebers bedürfen.
Und die Verlegung der Tornados nach Südafghanistan ist eine solche wichtige Weiterung?
Es geht darum, dass in den vergangenen fünf Jahren der Begriff der Verteidigung durch die USA ausgehöhlt worden ist. Das hat Auswirkungen auf die NATO, sofern diese die USA unterstützt. So wurde etwa die Intervention im Irak vom Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich als völkerrechtswidriger Angriffskrieg bezeichnet - was die rot-grüne Bundesregierung übrigens nie gemacht hat, sie beließ es bei einer politischen Ablehnung. Im weiteren Verlauf hat die US-Regierung eine neue Militärstrategie verabschiedet, die ausdrücklich das Recht auf preemptive strikes, also auf so genannte vorbeugende Kriegführung bekräftigt. Oder nehmen Sie Guantánamo und die jetzt von deutschen Staatsanwälten verfolgte US-Praxis der Verschleppung von Terrorverdächtigen, der rendition flights - all das ist völkerrechtswidrig.
Was heißt das mit Blick auf Afghanistan?
Die Berichte über die Hintergründe und die Art, wie die US-Anti-Terrorstrategie im Süden Afghanistans umgesetzt wird, stimmen mit nichts überein, was sich der deutsche Gesetzgeber des Jahres 1955 unter dem Begriff "NATO" vorgestellt hat. Demzufolge kann diese faktische Änderung des NATO-Vertrags, welche die USA der Allianz in den vergangenen Jahren aufgezwungen hat, künftig für die Bundeswehr nur nach Zustimmung in Form eines Gesetzes verbindlich sein. Eine Beteiligung der Bundesluftwaffe an den Kämpfen der NATO im Süden Afghanistans ist nach heutiger Rechtslage verfassungswidrig.
Davon abgesehen und ganz immanent gedacht: Brauchen USA und NATO die deutschen Tornados für Südafghanistan überhaupt?
Darüber hört man von den Experten unterschiedliche Einschätzungen. Bezeichnenderweise war ja die Bundeskanzlerin bis zum NATO-Gipfel in Riga Ende November auch nicht von der Notwendigkeit überzeugt. Der Verdacht drängt sich auf, dass die Bush-Regierung die deutschen Tornados nicht aus militärischen Gründen anfordert, sondern aus politischen: um Deutschland mit hineinzuziehen. Zwar ist die Bundeswehr schon über die KSK-Einsätze im Süden verwickelt, aber mit den Tornados würde es noch offensichtlicher: Deutschland soll Teil eines Krieges werden, der - so Helmut Schmidt - gegen die 1,4 Milliarden Muslime auf der Welt geführt wird. Das wäre dann eine neue Art von Weltkrieg. Dazu darf es nicht kommen. Auch der Erste Weltkrieg war einer, den keiner gewollt hat, aber in den alle hinein schlitterten, über Ultimaten und Gegenultimaten, als Opfer der eigenen Propaganda und der vollkommenen Verständnislosigkeit für die Interessen der anderen. Mein Ziel ist es, Deutschland aus dieser Eskalationsdynamik herauszuhalten.
Das Gespräch führte Jürgen Elsässer
Peter Gauweiler ...
... studiert Jura in München und Berlin. Seit 1968 ist er Mitglied der CSU und wird 1986 Staatssekretär im bayerischen Innenministerium unter dem Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß. Dort verantwortet er unter anderem Polizeieinsätze auf dem Bauplatz der Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf. Ab 1990 amtiert Gauweiler als bayerischer Umweltminister. Im Gegensatz zur CSU-Spitze kritisiert er 1992 scharf die Verträge von Maastricht, die er als "ausgemachte Schnapsidee" bezeichnet und einem Referendum unterwerfen will. Zwei Jahre später muss Gauweiler wegen umstrittener Privatgeschäfte als Minister zurücktreten. 2002 erstmals in den Bundestag gewählt, lehnt er ein Jahr später den drohenden Irak-Krieg ab und reist mit dem CDU-Politiker Willy Wimmer nach Bagdad. Als der Bundestag 2005 die EU-Verfassung ratifiziert, reicht er Verfassungsbeschwerde ein.
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