Als das Ausmaß der Gewalt in Paris in der Nacht des 13. November noch kaum zu ermessen war, verbreiteten sich im hebräischsprachigen Teil der sozialen Netzwerke bereits viele Kommentare, die eines gemeinsam hatten: Schadenfreude. Laut einem Bericht des Internet-Forschungsinstituts Vigo offenbarte ein Drittel der hebräischen Facebook-Kommentare der ersten 24 Stunden eine Haltung, die sich grob mit „Sie haben es verdient“ zusammenfassen lässt.
Die hässlichen Reaktionen speisen sich zum einen aus der in Israel verbreiteten Ansicht, dass die Position Europas und besonders Frankreichs mit seinen sporadischen Verurteilungen des Siedlungsbaus und Aufrufen zur Mäßigung auf beiden Seiten nichts als Heuchelei sei – angesichts der Welle des islamistischen Terrors, der sich Israelis derzeit ausgesetzt sehen. Zum anderen artikuliert sich da eine Besserwisserei in Sachen Terrorismus, mit dem Israel aufgrund seiner Erfahrungen selbstverständlich effektiver umzugehen wisse.
Und ja, teilweise kann ich diese arrogante Haltung nachvollziehen. Wer weiß besser als wir Israelis, wie man sich verhält, wenn die permanente Angst vor Selbstmordattentätern den Alltag bestimmt? Als jemand, der in Jerusalem zu Zeiten der zweiten Intifada aufgewachsen ist, bin ich zwangsläufig zu so einer Art Terrorexperte geworden. Man lernt schnell, die urbane Geografie als eine Karte der Gefahrenstufen zu lesen. Und genauso schnell glaubt man, an der Kleidung, der Hautfarbe und den Bewegungen fremder Menschen die exakte Bedrohungslage ablesen zu können. Was natürlich Unsinn ist, oder eher Selbstbetrug.
Ich wusste aber, wo ich nachts ausgehen konnte, an welchen Tagen ich mich nicht im Zentrum von Jerusalem aufhalten sollte. Und welche Lieder nach einem Anschlag im Radio gespielt würden. Heute lebe ich in Berlin. Und die Vorstellung, die Ereignisse in Paris könnten sich in Berlin wiederholen, macht mir Angst. Ich bilde mir aber aufgrund meiner Erfahrungen ein, besser als andere darauf vorbereitet zu sein.
Die israelische Regierung sieht sich auch wegen dieser Erfahrungen in der Position, die westliche Welt zu belehren, wie man mit Terrorismus umzugehen hat. Premierminister Benjamin Netanjahu setzte die Ereignisse in Paris mit der Situation in Israel gleich und präsentierte die israelische Besatzungspolitik als Erfolgsmodell. „Schließlich haben die Terroristen, die uns angreifen, die gleichen mörderischen Absichten wie diejenigen in Paris“, ließ er per Pressemitteilung verlauten. „Dank unserer aggressiven Politik gegenüber dem Terrorismus – unsere Kontrolle über das Land, das Eindringen in die Dörfer, die Zerstörung der Häuser von Terroristen – haben wir immer wieder noch schwerere Katastrophen verhindern können.“
Der Versuch israelischer Politiker, den IS und den palästinensischen Widerstand in einen Topf zu werfen, war vergangene Woche die Hauptbotschaft aus Jerusalem. Dadurch will man einen Teil der internationalen Sympathien zurückgewinnen. Innenpolitisch dient die Gleichsetzung zudem dazu, jegliche Friedensperspektive zu tilgen sowie alle Formen palästinensischer Gegenwehr als irrational und fundamentalistisch abzuqualifizieren. In Israel berichten viele Medien so reißerisch über mögliche Bedrohungen und realen Terror, dass Diskussionen über Frieden und soziale Gerechtigkeit oft im Keim erstickt werden. Den Tatsachen, dass das Bekennerschreiben zu den Pariser Anschlägen kein Wort über Israel verliert und dass der IS dem palästinensischen Nationalismus feindlich gegenübersteht, wird kaum Beachtung geschenkt.
Über die fatalen Auswirkungen jener Gleichsetzung klärte gerade die israelische Soziologin Eva Illouz in einem Zeit-Artikel auf. Sie besteht darauf, die palästinensische Gewalt, die einer Situation der Besatzung und Erniedrigung entspringt und klare politische Forderungen stellt, vom Terror des IS zu unterscheiden. Trotzdem dient Israel aber in der Tat für manche als Vorbild und Partner im „Kampf gegen den Terror“. So wird das israelische Racial-Profiling-System auch von einigen deutschen Kommentatoren für Europa empfohlen. Und israelische Sicherheitsfachleute und Waffenschmieden verkaufen ihre Expertise und Technologie in die ganze Welt.
Ewige Kriegssituation
Dabei haben gerade die vergangenen Monate gezeigt, dass die israelische Sicherheitsdoktrin die Bürger keineswegs schützt. Denn die seit Oktober andauernde Welle der Gewalt löste mit den Messerattacken in der israelischen Öffentlichkeit ein extremes Unsicherheitsgefühl aus. Wenn Dutzende Palästinenser, männlich und weiblich, jung und alt, bereit sind, den Tod in Kauf zu nehmen und mit den provisorischsten Waffen auf israelische Soldaten und Zivilisten losgehen, verweist dies auf die Grenzen einer aggressiven Repression und der immer harscheren Besatzungspolitik als Mittel im Kampf gegen den Terror.
Obwohl überall bewaffnete Polizisten und Soldaten stehen, unzählige Checkpoints und Zäune errichtet wurden, fühlt sich in Israel zurzeit niemand sicher. Überdies führt die verstärkte Bewaffnung der jüdischen Bevölkerung und die Aufrufe, jeden möglichen Attentäter ohne Zögern zu liquidieren, zu Schießereien, die Unschuldige das Leben kosten. Wie das Beispiel eines eritreischen Flüchtlings zeigt, der wegen des Verdachts, an einem Anschlag beteiligt gewesen zu sein, gelyncht wurde.
Die Äußerungen hochrangiger Politiker zeigen, dass die israelische Sicherheitslogik weiter untrennbar mit der Bereitschaft verbunden ist, in einer ewigen Kriegssituation zu leben. „Wir sind gezwungen, immer mit dem Schwert zu leben”, sagte Netanjahu kürzlich. Seine Landsleute sollten jegliche Friedenswünsche aufgeben und sich mit der prekären Sicherheitslage abfinden.
Das Wort Frieden, das vor wenigen Jahren noch im Wahlkampf von allen Parteien benutzt wurde, ist fast vollständig aus dem Vokabular verschwunden. Als ich in den 90er Jahren in Israel aufwuchs, wurde uns Kindern in der Schule immer erzählt, wenn wir groß seien, werde es Frieden geben und wir müssten dann nicht mehr zum Militär. Solche Versprechen macht israelischen Kindern heute keiner mehr.
Die Auswirkungen dieser Veränderung betreffen ganz direkt die palästinensische Bevölkerung, die einer zunehmend brutaleren Repression ausgesetzt ist. Und sie betreffen genauso direkt die israelische Bevölkerung. Die demokratischen und sozialstaatlichen Strukturen des Staates werden unter dem Primat der militärischen Gewalt weiter abgebaut. Die Angst und der Hass, die den Konflikt immer neu beleben, nutzt Netanjahu meisterhaft, um eine umfassende Apathie im Bezug auf alle anderen politischen Themen zu verbreiten. Er will dafür den Wunsch nach dem starken Mann tief in der Gesellschaft verankern. Seit der Einschwörung der neuen Regierung im März hält er nicht mehr nur den Posten des Premierministers, sondern er führt zudem das Kommunikations-, das Außen-, das Entwicklungs- und neuerdings auch das Wirtschaftsministerium.
Was also kann Europa von Israel über das Leben mit dem Terror lernen? Wohl eher wie es nicht geht: Wer auf Terror mit Gewalt und autoritären Strukturen reagiert, wird auf längere Sicht weder Sicherheit noch Demokratie erhalten können. Das ist die traurige Lektion meiner Heimat.
Kommentare 14
Super! Herzlichen Dank für diesen Beitrag aus berufenem Munde sozusagen. Es wird nichts an den politischen Tatsachen ändern. Gestern gab es mal wieder einen Themenschwerpunkt zum Terror auf ARTE. Und auch dort hörte man eindeutig andere Analysen, sowohl in Bezug auf die Effekte und die Situation in Mali, nach der französischen Intervention in Mali, als auch was die Aussichten der deutschen Beteiligung dort oder in Syrien betrifft. Man hörte die fundierte Meinung von Michael Lüders, die auch durch Berichte und Reportagen der Situation vor Ort begeleitet wurden. Die Politik lässt sich davon nicht weiter beeindrucken. Sie zieht die Konzepte durch, die seit Jahren dazu geführt haben, dass die Situation immer schlimmer geworden ist. Heute morgen die Meldung, dass die NATO nichts besseres zu tun hat, als Montenegro zum Beitritt aufzufordern. "Never change a winning strategy!" So als ob all die Strategien, die den aktuellen Status Quo herbeigeführt haben wirklich erfolgreich gesesen wären und man deswegen einfach so weiter machen sollte wie bisher. Es ist wie es ist: Die Politik wird ausschließlich bestimmt durch das, was die Militärs und die so genannten Systembanken an Konzepten und Handlungsoptionen vorgeben. Tragisch ist, dass sie dabei von der Mehrheit der Bevölkerung gestützt wird, die genau aus den Ängsten heraus urteilt und wählt, welche die Auswirkungen dieser Politik in ihnen erzeugt. Ein Teufelskreis von Gewalt und Gewaltandrohung, dessen direktes Symptom der grassierende Terror ist. Die Ohnmacht dem gegenüber kann man vergleichen mit der Ohnmacht dem Klimawandel gegenüber. Die werden so lange weiter machen, bis uns auch in den Festungen des Wohlstands der Himmel konkret auf den Kopf fällt und die Bevölkerung massenhaft antidemokratische Parteien wählt. Die Systembanken und die Militärs wird das weiter nicht anfechten, die funtionieren auch nter solchen Bedingungen prächtig.
bin froh über jede differenzierte meinung israelischer bürger. die alternativlos sich gerierende zumutung der n-regierungs-koalition: richtet euch auf einen immer-währenden krieg ein! produziert wirklich eine demo-kratie der besonderen art.
Differenzierungsvermögen ist schlecht für Hybris und Hybris ist gut dafür, die eigenen Absichten und Sichtweisen absolut setzen zu können. Das ist kein Privileg israelischer Politik, weder nach innen noch nach außen. Es ist noch nicht einmal eine Geißel nur unserer Zeit.
(Staats-)Terrorismus allerorten?
Angst? Sollten wir uns nicht besser davon befreien Yossi? Wem hilft es, wenn 40% der Hirnkapazität blockiert? Denn genau das passiert in einer Angstsituation. Vielmehr müßten wir klaren Kopf bewahren und uns nicht noch mehr Angst einimpfen lassen. Wie wäre es, wenn wir unsere Schwarmintelligenz nutzten? WIR haben DENEN die Macht ja nur auf Zeit verliehen. Und müssen sie das immer wieder spüren lassen, etwa morgen um 17.30 Uhr am Brandenburger Tor zu Berlin: FRIEDEN und zwar SUBITO!
Gute Reflektion!
Es ist schade, dass die Großen Staatsmänner sofort nach Krieg und vergeltung schreien, denn das beweist sie haben jetzt schon verloren! Das hat den Beigeschmack, als ob man die ganze Zeit auf so eine Situation (Pariser Anschläge) gewartet und gehofft hat. Dabei könnte die Lösung ganz einfach sein! Und diese Lösung ist wahrlich keine militärische, es ist ein wirtschaftlicher Ansatz, denn diese Terroristen brauchen Waffen, um Waffen zu kaufen benötigen sie Geld. Dem gegenüber verfügt die IS über Ressorcen, diese müssen aber an den Mann gebracht werden.
1. Wer zum Teufel verkauft diesen Leuten WAFFEN?
2. Wer zum Teufel kauft Das ÖL von diesen Leuten?
Sind die Antworten auf diesen Fragen das Problem, was alle "Beteiligten", (sowohl der Westen, als auch der Osten) zerreist und keine gemeinsame Strategie zulässt?
Interessanter und bedenkenswerter Beitrag.
Er erinnerte mich an Folgendes, was der israelische Filmemacher Dror Moreh laut eines Beitrages des Deutschlandfunks schrieb:
"Wir wissen, wie man Gewalt unterdrücken und Terror mit allen militärischen Mitteln bekämpfen kann, aber man kann Terror nicht wirklich besiegen, wenn man keine politische Lösung hat, und es liegt in unserem ureigensten Interesse, eine politische Lösung zu finden. Das ist nicht einfach, aber wir müssen uns darum bemühen, und die Politiker in Israel tun das nicht genug."
In Morehs Film "Töte zuerst!" erinnert einer der ehemaligen israelischen Geheimdienstchefs daran, dass der palästinensische Terror samt Selbstmordattentäter erst nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967, der mit der Eroberung der Westbank und des Gaza-Streifensendete, begann und für Israel zum Problem wurde. Ein Ende dieser verursachenden Politik scheint auch in diesem Fall nicht in Sicht.
Ein Volk, das ein anderes unterdrückt, kann selber nicht frei sein. Die andauernde Kriegssituation, mit der normale Israelis leben müssen, ist allein schon Beweis genug dafür, dass der Zionismus gescheitert ist. Er ist aber auch keine emanzipatorische Bewegung sondern eine, die vom Anfang an das Ziel hatte, die indigene Bevölkerung Palästinas zu vertreiben, um dort einen rein jüdischen Staat aufzubauen. Das hat zwangsläufig zur Folge, dass das israelische Establishment einem „ewigen Kriegs“ für normal hält. Ihm ist es bereit, seine Freiheit zu opfern.
Doch an der Wahrheit des Benjamin Franklin zugeschrieben Zitat von 1730 führt kein Weg vorbei: „Wer die Freiheit aufgibt um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren.“ Das gilt auch dann, wenn die unsicheren Zustände immer wieder selbst erzeugt werden.
Natürlich ist Deutschland im Vergleich zu Israel ein sehr sicheres Land, das keinen Raketenbeschuss fürchten muss, das nicht von feindlich gesinnten Nachbarstaaten umgeben ist, die seine Existenzberechtigung in Frage stellen. Doch nach den Pariser Anschlägen und der Erkenntnis, dass ein solcher Angriff der Dschihadisten auch in Deutschland und anderswo möglich ist (in Hannover und Brüssel hatten IS-Zellen ähnliches geplant), liegt ein Vergleich schon nahe.
Mein Eindruck ist, dass in dieser Lage viele Israelis hoffen, dass man in Europa besser versteht, wie der Terror nicht nur von Palästinensern, sondern auch Libanesen, Syrern oder der Gruppierungen auf dem Sinai das Land Israel verändert hat. Was es für ein Land bedeutet, im Dauerstress zu sein.
Was wir von den Israelis lernen können? Mich beeindruckt sehr die Mentalität in der Bevölkerung, mit der alltäglichen Bedrohung umzugehen. Diese Mischung aus Gelassenheit und Gemeinsinn. In den vergangenen Wochen war öfters zu sehen, dass, sobald eine Attacke passierte und die umstehenden Passanten das mitkriegten, die Leute nicht weglaufen, sondern auf den Tatort zu laufen, um zu helfen und einzugreifen.
So schön es wäre, wenn wir in Deutschland unseren täglichen Pazifismus weiter leben könnten. Aber wenn man sich vor radikalen Islamisten schützen musss, dann werden das nicht nur Behörden, Polizei und Armee erledigen können. Ohne Zivilcourage wird es nicht gehen.
Enzensberger hatte zum radikalen Verlierer bereits genug geschrieben.
Solange Verlierer (vice versa Gewinner) dort das Sagen haben wird es nicht gelöst werden können: die israelische Administration allerdings wird sich gefallen lassen müssen, sich als ultrakonservative Administration verhandelt sehen zu müssen, die fortschrittlichen israelischen Kräften in Israel das Leben buchstäblich zur Hölle machen (können).
Der Versuch israelischer Politiker, den IS und den palästinensischen Widerstand in einen Topf zu werfen, war vergangene Woche die Hauptbotschaft aus Jerusalem. [...] dass der IS dem palästinensischen Nationalismus feindlich gegenübersteht, wird kaum Beachtung geschenkt.
ISIS-Sinai leader visiting Gaza to boost cooperation with Hamas
Mehr möchte ich hier zu Ihrem "Beitrag" aus Berlin nicht sagen. Nur, dass Sie in diesem Berlin gut bleiben können. Rufen Sie bitte noch viele Ihrer Freunde an, auch dort zu wohnen? Danke! ;-)
Glasklar...
1. Wer zum Teufel verkauft diesen Leuten WAFFEN?
2. Wer zum Teufel kauft Das ÖL von diesen Leuten?
Ja, das ist tatsächlich eine der wichtigsten Fragen.
Wenn ein Geheimdienst wissen will, mit wem ich am Dienstag vor 7 Monaten um 19.46h telefoniert gabe, wird er das in sehr kurzer Zeit wissen.
Da muss mir die Idee in den Kopf kommen, dass es in vielen Regierungen sehr einflussreiche Kräfte gibt, die die tatsächlichen Finanzierungsmethoden des IS nicht veröffentlichen, und schon gar nicht unterbinden wollen.
Die ausserdem die Macht haben, die "guten" Geheimdienstmitarbeiter daran zu hindern, ihre Erkenntnisse (die sie haben müssen) der Öffentlichkeit mitzuteilen.
Diese Methoden hinterlassen genau so viel nachvollziehbare Spuren in vielen Systemen, wie mein Telefongespräch.
Man gebe Idioten ein Spielzeug an die Hand: Bewußtsein zB und schon schlagen sie sich dafür gegenseitig die Schädel ein.
und: was interessieren mich meine Telefonate.
Hansi, I do not get what you are talking about.
Danke für die Info, die für sich spricht - und gegen die Naivität des Kommentars von Yossi Bartal, der mal eben so ausblendet, dass die arabischen Islamisten ein gemeinsames Ziel auf jeden Fall haben: die Zerstörung Israels.
Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten, die trotz massiver Bedrohung durch Terror und Krieg verteidigt wird. Bei aller Kritik an der Siedlungs- und Innenpolitik der israelischen Regierung - wie kann man dies nur in einem Kommentar über die alltägliche Angst vor dem Terror in Israel einfach nicht zur Kenntnis nehmen?