Eine Regierungskoalition büßt den inneren Frieden ein. Drei Wochen nach dem Seitenwechsel der rechten Abgeordneten Idit Silman aus der Jamina-Partei von Premier Naftali Bennett verfügt sie über keine eigene Mehrheit in der Knesset mehr. Sechzig koalitionstreue stehen nun sechzig oppositionellen Parlamentariern gegenüber. Silman stärkt mit ihrem Übertritt den Rechtsblock um Ex-Regierungschef Benjamin Netanjahu, der gut ein Jahr nach seiner Abwahl Morgenluft wittert. Winkt eine Rückkehr an die Regierungsspitze? Sollten weitere Abgeordnete zu ihm überlaufen, dürfte die erste Koalition ohne den 72-Jährigen seit 2009 Geschichte sein.
Alarmierender noch für die weltanschaulich diffuse, vorrangig durch die Opposition gegen Netanjahu geeinte Acht-Parteien-Koalition Bennetts und des alternierenden Ministerpräsidenten Jair Lapid: Mitten im Fastenmonat Ramadan verkündete die arabisch-israelische Regierungspartei Ra’am, ihre Mitgliedschaft in der Regierung „einzufrieren“. Mansur Abbas, der seine vierköpfige Fraktion durch viel Verhandlungsgeschick 2021 zum Königsmacher der Koalition befördert hatte, reagierte auf das gewaltsame Eindringen israelischer Sicherheitskräfte in die Al-Quds-Moschee auf dem Jerusalemer Tempelberg Mitte April. Die Möglichkeit, dass die Lage dort zum Ende des Fastenmonats an der Muslimen heiligen Stätte abermals eskaliert, ist so wenig ausgeschlossen wie ein erneuter Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen auf israelische Städte, der zu den üblichen Gegenschlägen führt.
Mansur Abbas hat mit der Entscheidung, sich temporär aus der Koalition zurückzuziehen, entsprechend vorgesorgt – der Druck seiner arabisch-israelischen Wählerschaft, auf die Gewalt israelischer Militärs in Jerusalem und dem Westjordanland zu reagieren, ist groß. Interesse an einem Ende der Regierung hat der 48-Jährige freilich nicht, im Gegenteil: Die Alternative wäre weitaus schlimmer, denn ein Comeback Netanjahus würde vermutlich die Aufnahme rechtsextremistischer Politiker in ein künftiges Regierungsbündnis mit sich bringen. Bezalel Smotrich von der Partei des Religiösen Zionismus und Itamar Ben Gvir von der Jüdischen Stärke halten sich bereit.
Dass die Post-Netanjahu-Regierung zehn Monate nach ihrem Antritt ins Stolpern gerät und um ihre Mehrheit kämpft, kann nicht überraschen. Die israelische Politik der zurückliegenden Jahre war stets von unklaren Mehrheitsverhältnissen geprägt – vier Wahlen zwischen April 2019 und März 2021 sind Ausdruck labiler Zustände. Anders als Ende 2020 jedoch, da das Bündnis des heutigen Verteidigungsministers Benny Gantz mit Netanjahu an einem nicht verabschiedeten Haushalt zerbrach, bleibt dem Kabinett Bennett/Lapid Zeit bis März kommenden Jahres, um das Budget für 2023 zu verabschieden. Gesetzesprojekte unter diesen Umständen durchzubringen, dürfte allerdings schwer werden.
Und selbst wenn es Bennett und Lapid gelingen sollte, die rechten und linken Flügel ihrer Regierung über den Sommer hinweg zusammenzuhalten, ist ihr Zusammengehen schon jetzt eines auf Zeit: Die Koalitionsvereinbarung sieht den Wechsel Lapids aus dem Außenministerium in das Amt des Ministerpräsidenten erst im August 2023 vor. Dass die ideologischen Sollbruchstellen zwischen Bennetts rechter Jamina-Fraktion und den sozialdemokratischen Arbeitspartei- und Meretz-Abgeordneten bis dahin nicht aufbrechen, ist wenig wahrscheinlich. Schon jetzt ist die Enttäuschung der linksliberalen Wähler über die Meretz-Minister Tamar Zandberg und Nitzan Horowitz spürbar. Besonders das völlige Ausklammern der anhaltenden israelischen Besatzung in der Westbank sorgt für Frust. Natürlich kann das Patt in der Knesset befristet eine disziplinierende Wirkung auf die acht Koalitionsparteien haben. Dass über ihnen das Damoklesschwert einer Rechtsaußen-Regierung hängt, wird seine Wirkung nicht verfehlen, die Spaltung von Gesellschaft und Politik indes nicht überbrücken.
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