Israelis und Palästinenser müssen sich trennen

Im Gespräch Der Psychoanalytiker Shmuel Erlich über die palästinensische Gesellschaft vor den Präsidentenwahlen am 9. Januar und die Sorge der israelischen Gesellschaft um ihre jüdische Identität

Shmuel Erlich ist als Kind mit seinen Eltern aus Frankfurt/Main vor den Nazis geflüchtet. Später war er in Israel jahrelang Vorsitzender der psychoanalytischen Vereinigung - heute ist er Inhaber des renommierten Sigmund-Freud-Lehrstuhls der Hebräischen Universität Jerusalem.

FREITAG: Mit dem Tod Arafats hat sich die Lage im Nahen Osten verändert. Sehen Sie neue Chancen für einen Ausgleich mit den Palästinensern?
SHMUEL ERLICH: Das lässt sich schwer sagen, denn der palästinensischen Gesellschaft steht ein Kampf um die Führung bevor. Dadurch, dass Arafat die Macht monopolisiert hatte, kamen die unterschiedlichen Kräfte in dieser Gesellschaft nicht wirklich zu Wort. Deshalb wusste man bislang nicht genau, wie die Kräfteverteilung tatsächlich ist. Außerdem stellt sich den Palästinensern jetzt natürlich die Frage, welche Gesellschaft sie haben möchten. Vielleicht ist das nicht allen bewusst, aber allein die Tatsache, dass sich Marwan Barghouti (*) als Kandidat für die Wahlen am 9. Januar präsentieren konnte, auch wenn er dann wieder den Rückzug antrat, bezeichnet eine Veränderung.

Wahrscheinlich wird Mahmud Abbas gewählt, aber allein Barghoutis Wortmeldung zeigte, dass sich die Teile der palästinensischen Gesellschaft, die mehr auf Gewalt und auch Terror setzen, nun am politischen Prozess - und das heißt: an der Macht - stärker beteiligen wollen. Die Gesellschaft bekommt dadurch einen ganz anderen Charakter. Es geht um die Richtung für die nächsten fünf, zehn oder vielleicht sogar 50 Jahre. Bislang hatte diese Gesellschaft keine wirkliche Alternative: es gab Arafat. Jetzt kommt es zu einer realistischen Entscheidung.

Die palästinensische Gesellschaft lebt politisch von der Negativ-Fixierung auf erlittenes Unrecht. Eine neue Führung könnte da einen Paradigmenwechsel herbeiführen und sich mehr auf positive Aspekte konzentrieren, auf neue politische Strukturen, auf mehr Rechtssicherheit zum Beispiel ...
Ich sehe das als Identitätsfrage. Bis heute ist die palästinensische Identität leider sehr schwach; das liegt daran, dass sie eine historisch späte Entwicklung ist und vor allem auf die narzisstischen Verletzungen baut - also auf die Frage: wer ist unser Feind? Der Feind erlaubt uns oder hilft uns, überhaupt zusammenzukommen. Das kann aber historisch nicht sehr weit reichen. Ich glaube, dass die Identitätsfrage die politische Frage entscheiden wird - und nicht umgekehrt. Arafat verstand es unglaublich gut, diese Gegen-Identität zu symbolisieren. Die neue Führung wird ein enormes Problem haben, wenn sie eine neue Richtung einschlagen und zugleich die vielen Splittergruppen integrieren will. Doch wenn sie sich entschließt, nicht immer nur dagegen zu sein, sondern etwas Positives, Realistisches zu wollen, dann werden diese narzisstischen Verletzungen auch heilen.

Politik besteht immer aus Kompromissen, aber Kompromisse waren in der palästinensischen Gesellschaft bisher nicht besonders beliebt.
Das stimmt. Kompromisse schließt man eben nur, wenn man dazu reif ist. Wenn nicht, sieht man eine Gesellschaft der radikalen Spaltung, wo es nur schwarz oder weiß, für uns oder gegen uns gibt. Die Fähigkeit zum Kompromiss hat mit der Analyse von Realität und der Gabe zu tun, innerhalb der Realität eine Position zu vertreten. Das ist wirklich eine psychologische Entwicklungsfrage. In Gesellschaften, in denen die Schwarz-Weiß-Spaltung existiert, ist ein Kompromiss nicht möglich - er passt nicht zum Denksystem.

Heißt das, die palästinensische Gesellschaft ist noch nicht erwachsen, sondern erst in der Pubertät?
Oder noch viel jünger. Das ist eine Frage des theoretischen Bezugrahmens. Ich habe mich in einem Aufsatz einmal mit der Frage beschäftigt: mit welchem Feind können wir einen Dialog haben? Ich habe unterschieden zwischen einem Feind, der nur in dieser Spaltungs-Ebene existiert, was eher primitiv ist, und einem Feind, der in einem späteren Entwicklungs-Niveau angesiedelt ist, wo es eine dritte Möglichkeit gibt - also nicht nur ja oder nein, sondern ein Lösung, die uns vereint.

Das hängt dann damit zusammen, wie "früh" die Störung anzusiedeln ist ...
... genau. Man kann zwar Individual- und Gesellschaftsentwicklung nicht völlig parallelisieren, aber miteinander vergleichen. Das gilt natürlich auch für die israelische Gesellschaft. Es gibt ein berühmtes Wort von Menachim Begin (**), der Arafat als "zweifüßiges Tier" bezeichnet hat. Das ist ein besonders krasser Fall von Spaltung: wenn der Feind ein Tier ist. Wenn er nicht menschlich ist, haben wir nichts gemeinsam. So ein Denken kann nicht zu Kompromissen führen. Oder nehmen Sie die Haltung Golda Meirs (***), die gesagt hat: "Die sind doch gar kein Volk."

Es hat sich also auch in der israelischen Gesellschaft etwas verändert: man ist allmählich zu der Ansicht gekommen, dass die Palästinenser nicht nur Menschen, sondern auch potenzielle Partner sind. Das war auch der Grund für die Verträge von Oslo. Leider ist dann Arafat - aus unserer Sicht wenigstens - wieder zu einer früheren Entwicklungsstufe zurückgekehrt, im Sinne einer Regression.

In der israelischen Gesellschaft gibt es allerdings höchst unterschiedliche Ansichten, wie man mit den Palästinensern umgehen sollte. Oft hängt das vom Lebensalter und von persönlicher Erfahrung ab - die Holocaust-Generation ist traditionell viel ängstlicher als die mittlere Generation. Und viele der jungen Leute haben den gefährlichen Militärdienst satt und wollen das Ende der Besatzung.
Ich glaube nicht, dass es nur eine Altersfrage ist. Es gibt in der israelischen Friedensbewegung auch viele aus der älteren Generation, und es hat auch nicht nur mit dem Holocaust zu tun. Die russischen Israel-Immigranten - ungefähr eine Million Menschen - sind zum Beispiel sehr rechts eingestellt, obwohl sie den Holocaust gar nicht erlebt haben. Aber sie haben ein totalitäres Regime erlebt, deshalb haben sie wenig Vertrauen. Sie wollen alles mit Machtpolitik lösen.

Bei der Jugend hat ein Teil eine sehr linke, kosmopolitische Orientierung und plädiert für den Rückzug aus Gaza, aus den besetzten Gebieten überhaupt. Und es gibt einen anderen Teil, der aus religiösen oder historischen Gründen ein größeres Israel wünscht und die Palästinenser am liebsten verschwinden lassen würde - genauso wie die Palästinenser natürlich wollten, dass wir verschwinden oder ins Meer gehen.

Die Siedler sind ein großes Problem für die israelische Politik, weil sie teilweise radikal religiös sind. Aber sie haben keine Mehrheit.
Ja, nur wer hat eigentlich die Mehrheit? Bei den letzten Wahlen haben die Rechten dazu gewonnen und die Linken verloren. Das war die Zeit der Selbstmordanschläge - und der Terror arbeitet immer für die Rechte. Heute scheint es allerdings so, dass die Mehrheit der Israelis ziemlich pragmatisch denkt und einen Kompromiss für das Maximale hält, das man erreichen kann. Und weil Sharon als ein rechter Politiker den Gaza-Rückzug vorgeschlagen hat, sind viele aus der Mitte bereit, ihm zu folgen. Das ist nicht nur eine pragmatische Frage, sondern ein Versuch wie die Oslo-Verträge. Viele Israelis sind der Überzeugung, dass man lieber jetzt etwas unternehmen sollte als in 20 oder 30 Jahren, wenn wir wegen der demographischen Entwicklung viel mehr verlieren würden.

Weil die Palästinenser zahlenmäßig stark zunehmen werden, da sie einfach mehr Kinder haben ...
... und dann? Sie brauchen ja gar nicht viel zu tun. Wenn die demographische Entwicklung so weitergeht, haben sie in 20 Jahren die zahlenmäßige, die demokratische Mehrheit in Israel. Dann können sie den Staat übernehmen, dann ist das kein jüdischer Staat mehr. Das heißt: wenn man Israel als jüdische Gesellschaft bewahren will, dann müssen wir heute etwas tun, dann müssen Israelis und Palästinenser sich trennen.

Sie haben über den Mord an Rabin gearbeitet. War das eine Art Vatermord? Rabins Mörder gehörte zur extremen Rechten. Der vernünftige Vater, der zu Kompromissen bereit ist, wird von einem radikalen Sohn erschossen.
Der Mord an Rabin ist ein so tiefes Trauma für die israelische Gesellschaft - wir haben das bis heute nicht überwunden. Ist es ein Vatermord? An sich sieht es ja so aus. Aber dann habe ich mir die Trauer der Jugendlichen um Rabin einmal genauer angesehen. Bilder sind manchmal fast genauso wichtig wie Träume. Kurz bevor er ermordet wurde, haben sich Rabin und der sehr populäre junge Pop-Sänger Aviv Geffen umarmt. Rabin, der sehr zurückhaltend war, und dieses mit Farben vollgeschmierte Pop-Idol der Jugend. Was ich da gesehen habe, war eher das Zusammenkommen eines Großvaters mit seinem Enkel. Und diese beiden konnten zusammenkommen, weil sie die mittlere Generation übersprangen. In meiner Deutung verbirgt sich dahinter der Wunsch, die historische Verbindung zum Holocaust - zur Shoah - wiederherzustellen. Und die Umarmung drückte das Bedürfnis aus, auch historisch weiterzugehen, so wie Rabin das mit seiner Versöhnungspolitik getan hat, um dadurch auch das Holocaust-Trauma zu mildern. Insofern war der Mord an ihm auch ein Schlag gegen den Wunsch, den Holocaust zu verheilen; er war ein Versuch, die historische Entwicklung mit dem Holocaust abbrechen zu lassen.

Gibt es da bei den Palästinensern eine Entsprechung? Arafat war ja auch ein Großvater, offenbar ein etwas korrupter, gegen den die Jugend am Ende rebelliert hat.
Trotzdem haben viele Jugendliche mit schweren Tränen über seinen Tod geweint - erst haben sie rebelliert, dann haben sie geweint. Arafat wollte alle Fraktionen in der palästinensischen Politik kontrollieren, von der Hamas bis zur Fatah, und er hat es sehr lange geschafft, dass alle nach seiner Musik tanzen.

Der israelische Rückzug aus Gaza wird jetzt ausgerechnet von Ariel Sharon eingeleitet, der in Arafats Tod den Beginn einer neuen politischen Zeitrechnung sieht.
Ja, rechte Parteien tun sich in dieser Hinsicht einfach leichter. Hätte Ehud Barak von der Arbeitspartei diesen Rückzug vorgeschlagen, würde sich Sharon in den Straßen vor die israelischen Panzer legen, um das zu verhindern. Aber wenn er das selbst initiiert - so wie Begin seinerzeit die Rückgabe des Sinai mit Sadat vorbereitet hat - dann hat er schon einmal einen Teil der Bevölkerung hinter sich, die rechten Wähler, und das ist sehr viel. Und die Linke ist sowieso dafür. Deshalb wird er auch in dieser Frage eine Mehrheit bekommen.

Sharon hat bezogen auf die Sicherheit Israels einen ungeheuren Einfluss. Wenn er diesen Rückzug vorschlägt, als General, als rechter Parteiführer, als Pragmatiker, dann muss das etwas Gutes sein. Und ich glaube, er hat in dieser Frage tatsächlich einen historischen Moment erfasst. Da hat er etwas verstanden.

Wie würden Sie - um unser Gespräch zu resümieren - die derzeitige Stimmung in Israel beschreiben?
Es gibt sehr viel Angst. Es gibt auch Hoffnung auf Frieden nach Arafats Tod. Man fürchtet vor allem eine Spaltung der israelischen Gesellschaft. Es geht dabei nicht um rechts und links, sondern um so etwas wie jüdische Identität. Das hat mit Religion zu tun, mit Tradition, mit Geschichte. Diese Fragen werden bei uns seit 100 Jahren kontrovers diskutiert, jetzt aber müssen wir uns langsam entscheiden: Wer ist ein Jude? Diese Frage verfolgt uns - und ist nicht lösbar. Immerhin leben in Israel sehr viele verschiedene Kulturen und Ethnien miteinander. Das wird in Europa kaum wahrgenommen: Israel ist ein multikultureller Staat. Deswegen ist die Frage so wichtig: in welchem Rahmen leben wir denn zusammen? Was kann uns verbinden, wenn wir aus 70 verschiedenen Ländern kommen? Was ist israelisch? Israelisch ist offenbar mehr als jüdisch sein. Was ist Israel als Demokratie? Das sind schwierige Fragen. Unsere Gesellschaft wird sich noch lange damit beschäftigen müssen. Möglicherweise macht das den israelischen Charakter aus, sich mit solch verzwickten Identitätsfragen zu befassen. Wer bin ich eigentlich? Die ständige Suche - vielleicht ist das unsere Gemeinsamkeit.

Das Gespräch führte Christian Gampert

(*) führender Fatah-Politiker, der sich zur Zeit in israelischer Haft befindet.

(**) israelischer Premierminister zwischen 1977 und 1983 für die Cheruth-Partei beziehungsweise den Likud-Block.

(***) israelische Premierministerin zwischen 1969 und 1974 für die Arbeitspartei.


12 Monate für € 126 statt € 168

zum Geburtstag von F+

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden