FREITAG: Seit Beginn des Kosovo-Krieges veranstaltet das Theater an der Ruhr regelmäßig Diskussionsabende »Zum ewigen Frieden«, um in Zeiten einseitiger medialer Öffentlichkeit einen Raum zu schaffen, in dem dieser Krieg grundsätzlich thematisiert und diskutiert werden kann.
ROBERTO CIULLI: Der anfängliche Grund hierfür war, daß es in der Öffentlichkeit so gut wie keine Kritik am Kriegseinsatz der NATO gab. Deshalb haben wir im Theater an der Ruhr versucht, dessen Hintergründe zu erhellen und Argumenten gegen den Krieg Gehör zu verschaffen, was in dieser ersten Zeit sehr schwierig war, weil eine emotionalisierte öffentliche Diskussion solche Argumente kaum zuließ. Jetzt, nach bald zwei Monaten Krieg, beginnt sich die Stimmung zu ändern.
Die ersten Nächte dienten einer Differenzierung des öffentlichen Diskurses und damit einer möglichen Analyse der wirklichen Ursachen des Krieges. Bei den politisch Verantwortlichen aber scheint mir die Haltungsänderung nur kriegstechnischer, nicht grundsätzlicher Art zu sein.
Die jetzige Diskussion bleibt eine oberflächliche über das geschaffene Faktum, ohne eine objektive Einsicht in seine Genese. Dies ist eindeutig so gewollt, die inhaltliche Ausrichtung der jetzt beginnenden Diskussion zielt bewußt auf eine weitere Verschleierung der Hintergründe dieser faktischen Situation. Wir kennen diese Hintergründe und wir wissen, daß die Europäer hier einen Schritt in die falsche Richtung gemacht haben. Europa hat im Moment nicht nur die Chance, zu einer Gemeinschaft zu werden, sondern auch Asien in diesen Prozeß einzubeziehen. Doch statt in einer Zeit, in der ein solches Europa entsteht, und dazu gehört schließlich auch der Balkan, sich einen eigenen Handlungsfreiraum zu verschaffen und eine eigene Zukunftsvision zu entwickeln, ist man dem amerikanischen Diktat gefolgt und dessen Interesse, eine »neue Weltordnung« zu schaffen, die nur dazu dient, ökonomische Interessen offensiv zu verteidigen. Man brauchte die Legitimation der Menschenrechte, um diese Interessen zu verbergen. Wir wissen, daß die Wirtschaft immer stärker die Politik bestimmt. Aber jetzt, mit dem Krieg, entsteht eine direkte Brücke zwischen Wirtschaft und Militär, das heißt die Politik bleibt in der Mitte, in einem absoluten Vakuum. Ist das vielleicht eine mögliche Interpretation der »Neuen Mitte«?
Wie situieren Sie die Fortsetzung Ihrer »Friedensgespräche« in der nun etwas veränderten öffentlichen Diskussion?
Unsere Möglichkeiten sind natürlich begrenzt, aber es ist mittlerweile zu hoffen, daß eine Bewegung gegen diesen Krieg entsteht. Unser Ziel ist es weiterhin, den Menschen, die sich erpreßt in einem angeblichen »Dilemma« befinden, Argumente zu dessen Auflösung zu geben. Auf emotionaler Ebene sind wir natürlich alle zunächst einmal einer Meinung und reden entsprechend. Wenn Menschen, egal wo, leiden, sind wir alle, ob links, Mitte oder rechts, der Meinung, diesen Menschen muß geholfen werden. Aber wenn wir sagen, unser Prinzip ist, daß wir uns über die nationalen Grenzen hinaus für die Rechte anderer Menschen engagieren, dann frage ich, woher rührt die Entscheidung, in diesen Fall einzugreifen und in jenen nicht? Wo fangen wir an? Als die Opposition gegen Milosÿevic´ demonstriert hat, hat sich kaum jemand dafür interessiert. Emotional stimmen wir einigen Argumenten für ein Eingreifen zu. Aber dann: Warum haben wir eine UNO, und warum würde Amerika diese am liebsten abschaffen? Weil die UNO ein Instrument ist, das auf dem Völkerrecht basiert, und wenn diese Prinzipien von allen Völkern gemeinsam akzeptiert werden, dann sind für Einzelne und deren Interessen bestimmte Dinge nicht mehr möglich. In ihrer derzeitigen Form ist die UNO sicherlich keine perfekte Weltorganisation, aber sie wurde geschaffen, um in dieser Richtung immer weiter verbessert zu werden. Die Amerikaner aber suchen ein anderes Instrument, das die UNO in ihrer Funktion desavouiert. Tatsächlich haben wir auch schlechte Erfahrungen mit der UNO erlebt, zum Beispiel in Bosnien, aber entweder hält man an den Prinzipien fest und versucht diese zu verbessern - und darin sind ganz klar auch die Verteidigung von Menschenrechten und mögliche Einmischung in andere Staaten enthalten - oder man bricht mit diesen Prinzipien, wie es jetzt passiert ist. Ich bin nicht für einen naiven Pazifismus, aber zwischen diesem und dem Krieg gibt es eine Reihe von möglichen Handlungen, die in diesem Fall überhaupt nicht erschöpft worden sind. Als zum Beispiel serbische Rechtsanwälte, das heißt serbische Oppositionelle sich vor Kosovo-Albaner gestellt und diese gegenüber den serbischen Nationalisten verteidigt haben: wo war in diesem Moment die Seele von Herrn Scharping? Wenn wir damals diese Kräfte unterstützt hätten, dann gäbe es heute eine andere Situation.
Die bisherigen Gespräche dienten nicht nur einer solchen Erhellung und Differenzierung der Fakten, sondern in ihnen wurde versucht, eine andere Ebene des Denkens und Sprechens über dieses Thema zu erzielen. Wie läßt sich dieses beschreiben, und in welchem Verhältnis steht es zu Ihrer Theaterarbeit?
Das Spezifische liegt zunächst in dem schon angesprochenen Versuch, geschichtlich zu denken. Was hat zu der heutigen Situation geführt? Was sind deren Hintergründe? Was Jugoslawien betrifft, müssen wir nicht vor dem Zweiten Weltkrieg anfangen, sondern nach dessen Ende: indem man bedenkt, was Jugoslawien in der folgenden Zeit bedeutet hat und was es für Europa hätte bedeuten können, vor allem nach dem Zusammenbruch der UdSSR, dort einen Raum, einen Staat zu haben, in dem viele Völker zusammen leben. Für die jüngste Vergangenheit müssen wir uns klar darüber werden, daß vor allem Deutschland mit der sofortigen Anerkennung von Kroatien einen großen Fehler gemacht hat (wovon heute kaum mehr gesprochen wird), wodurch Kroatien sofort ein ethnisch sauberes Land geworden ist und auch die Politik Serbiens mit motiviert wurde.
Im Theater versuchen wir nicht, Massen zu erreichen und zu überzeugen, sondern Individuen zu ermöglichen, sich jenseits oberflächlicher Informationen über den heutigen Zustand eine eigene, persönliche Meinung zu bilden, die sie für sich vertreten können, das heißt eine bewußtere Haltung gegenüber dem eigenen Denken einzunehmen. Das ist für mich die Basis einer Demokratie. Derzeit entwickelt sich auch die europäische in die Richtung der amerikanischen Demokratie, in der die Politik sich nur noch an der Demoskopie orientiert mit nur dem einen Ziel: so schnell wie möglich in die Regierungsverantwortung zu kommen und diese so lange wie möglich zu erhalten. Zwar leben wir in einer der besten Demokratien, aber die mögliche Entwicklung dieser Demokratie ist noch nicht zu Ende. Innerhalb dieser Demokratie hat das Theater die Funktion einer »subventionierten Opposition«. Diese besteht darin, daß wir uns einen demokratischen Staat vorstellen, in dem die Freiheit der Person, des Individuums noch mehr als in unserem bestehenden realisiert ist. Seit drei Monaten haben wir eine neue Regierung, aber statt eines Wechsels der Politik hin zur Realisierung möglicher Visionen, vor allem einer Vision von Europa, gibt es ein nervöses Handeln ohne Perspektive in die Zukunft. Da ist ein Moment erreicht, wo Theaterleute, deren künstlerische Arbeit sich an längeren Perspektiven orientiert, sich direkt formulieren und der Politik klar widersprechen müssen. In einer Situation, in der die Politik nicht nur stagniert, sondern entscheidende Rückschritte in ihrer Entwicklung macht, müssen wir uns einer direkteren Sprache bedienen als der Theatersprache und eine kurzfristigere Wirkung anstreben als mit unserer Kunst. Denn Theater sind Orte der Öffentlichkeit, politische Orte, und es kann sogar Momente geben, wo man aufhört, Theater zu machen, wenn man sieht, daß der öffentlichen Politik jeder autonome Handlungsspielraum verloren geht und die demokratische Gesellschaft zu keiner freien Meinungsbildung und Handlungsentscheidung mehr fähig ist.
Das Gespräch führte Stefan Schroer
Im Juni gastieren im Theater an der Ruhr zwei Theater aus Belgrad: das »Jugoslovensko Dramsko« mit Belgrader Trilogie von Biljana Srbljanovic (6., 8.6.) und das »Zentrum für kulturelle Dekontamination« mit Eva Braun (7.6.)
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.