Ist das Parteiprogramm wichtiger als Joschka Fischer?

Zur Person Günter Gaus sucht bei der grünen Politikerin Bärbel Höhn die Grenze zwischen Pragmatismus und Opportunismus

Bärbel Höhn ... ... wurde am 4. Mai 1952 in Flensburg geboren. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Nach dem Studium der Mathematik und Volkswirtschaft war sie von 1978 bis 1990 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Duisburg. Zu den Grünen kam Höhn 1985. Fünf Jahre später zog sie erstmals in den Düsseldorfer Landtag ein, wo sie von 1990 bis 1995 Fraktionssprecherin war. Seit 1999 ist sie Mitglied im Parteirat. Von 1995 bis 2000 war Höhn Ministerin für Raumordnung und Landwirtschaft in NRW, seither ist sie Ministerin für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.

GÜNTER GAUS: Joschka Fischer teilt mit, er werde 2006 mit Gerhard Schröder den Wahlkampf für die rot-grüne Koalition anführen, wofür gibt es eigentlich noch Parteitagsdelegierte, die zu gegebener Zeit über solche Personal- und Koalitionsfragen entscheiden?
BÄRBEL HÖHN: Formal haben Sie recht, er hatte sagen müssen: Ich möchte wieder zur Wahl antreten. Es ist so, dass ihn der Parteitag der Hessen aufstellen will, denn wir haben ja keinen Bundesparteitag zur Bundestagswahl. Aber dass der Außenminister und Vizekanzler da nicht die Spitzenposition einnehmen wird, ist schon sehr unwahrscheinlich. Ich glaube, die Ankündigung war eher als Signal gedacht, das die Leute schon richtig verstehen.

Wenn alle es für ganz selbstverständlich halten, dass einer - nur weil er das und das ist - ein Prinzip bricht, wofür die Grünen einmal angetreten waren, nämlich solche Selbstherrlichkeit von Parteioberen zu beschneiden, dann ist doch ein Ideal verloren gegangen - oder?
Ich glaube nicht ganz, aber es ist in der Tat so, dass sich da etwas verändert hat, wenn ich aber andererseits sehe, mit welcher Inbrunst bei uns Parteiprogramme diskutiert werden, dann ist das Programm noch immer das Wichtigste.

Indem Sie Kreide gefressen haben, bei dem, was Sie sagen, erkennen Sie da die alte Basiskämpferin Bärbel Höhn noch wieder?
Erst einmal habe ich keine Kreide gefressen ...

... aber es ist doch formal, wie Sie antworten.
Ja, aber es stimmt nicht, dass die Leute sich nicht mehr für Parteiprogramme interessieren. Das letzte Parteiprogramm der Grünen ist uns förmlich aus den Händen gerissen worden.

Nur hatte ich danach nicht gefragt. Ich wollte wissen, weshalb die Stillosigkeit von der Öffentlichkeit so hingenommen wird, dass zwei Spitzenleute sagen: Ja, ja, wir machen es wieder, und die Demokratie sich dahin entwickelt hat, dass es kein Taktgefühl gibt, wenigstens zu erklären, natürlich werden wir antreten, wenn die Delegierten zustimmen. Wenn Sie jetzt sagen, das ist doch selbstverständlich ...
Ja, aber für mich persönlich ist ein Parteiprogramm wichtig ...

... ist das Parteiprogramm wichtiger als Joschka Fischer?
Letzten Endes ist es wichtiger.

Auch für die Wahl?
Auch dafür. Die Wähler fragen es nach. Sie fragen danach sehr genau: Was macht ihr da - und was steht im Wahlprogramm.

Eine gewisse Glätte, an der vieles abperlt?

Meine Frage bleibt: Bärbel Höhn, eine engagierte, durchaus der Basis gegenüber aufgeschlossene und ihr zugehörige grüne Politikerin, rechtfertigt und erklärt eine Personalisierung, die zu einer Art Entmündigung von Parteitagsdelegierten führt. Warum wehren Sie sich so?
Nein, ich sehe das ein Stück anders. In der Tat ist es so, dass Personen heute mehr Einfluss in der Politik haben als früher, vielleicht auch mehr, als mir vor zehn Jahren noch lieb gewesen wäre. Aber ich kann nicht akzeptieren, dass ich deshalb die Diskussion um Programme weniger wichtig finden soll.

Ich zitiere Bärbel Höhn: "An Politik reizt mich die Veränderung, was ich dazu brauche, ist Macht." Haben sie gelegentlich die Beobachtung gemacht, dass Macht zum Selbstzweck werden kann? Zu einer Art Droge?
Vielleicht nicht so sehr die Macht, die ist natürlich auch mit großer Verantwortung verbunden. Manchmal denkt man, es wäre gut, wenn du weniger Macht hättest und auch weniger Verantwortung, aber selbstverständlich verändert Politik auch, sie macht auch abhängig. Es gibt die finanzielle Abhängigkeit, dagegen kann man sich wehren, was ich persönlich auch versucht habe.

Was meinen Sie damit?
Ich bin erst in die Politik gegangen, als ich schon einen Job hatte und wirtschaftlich auf eigenen Füßen stand. Ich wollte, dass es niemals einen Zeitpunkt geben sollte, zu dem ich sage, aus wirtschaftlicher Abhängigkeit trage ich jetzt etwas mit.

Das ist die finanzielle Abhängigkeit, welche Abhängigkeiten gibt es noch?
Die ergeben sich aus dem, was man in einem Amt erlebt. Die Anerkennung zum Beispiel, die damit verbunden ist ...

... auch die Macht.
Ja, das hat auch etwas mit Macht zu tun. Das darf man auch nicht leugnen. Man muss aber versuchen, sich davon unabhängig zu machen.

Haben Sie manchmal den Eindruck von sich, dass Sie im Laufe Ihrer politischen Praxis - Sie sind nun bald zehn Jahre Ministerin - eine gewisse Glätte entwickelt haben, an der vieles abperlt?
Nein, den Eindruck habe ich nicht. Ich glaube, dass ich heute viel mehr Erfahrung habe, dass ich deshalb auch anders antworten würde, in einigen Punkten sicher auch nicht so direkt oder offen. Den von Ihnen angeführten Satz mit der Macht, den würde ich heute vielleicht anders formulieren und sagen: Dafür brauche ich Einfluss, um dies und jenes durchzusetzen. Was Sie zitieren, habe ich gesagt, kurz bevor ich Ministerin wurde. Aber ich glaube nicht, dass ich glatter geworden bin.

Gibt es keinen Drang nach Berlin?

Der Wechsel vom Wort "Macht" zum Wort "Einfluss", ist das medientaktisch gedacht? Sie sagen, wenn ich von Einfluss rede, gebe ich mir weniger Blößen. Diese taktische Einfühlung, haben Sie die mit in die Politik gebracht oder hat sich das aus der Erfahrung entwickelt?
Die habe ich wahrscheinlich nicht mit in die Politik gebracht, sonst hätte ich damals ja nicht Macht gesagt. Insofern war das Learning by doing.

Sie sprechen nun lieber von Einfluss als von Macht. Was denkt sich einer, der "basta" sagt? Hat der genug Macht, das sagen zu können?
Kann sein. Der hat sich vielleicht entschieden, das mal ganz direkt zu machen.

Gibt es keinen Drang von Bärbel Höhn nach Berlin, um ein größeres Rad mit mehr Einfluss - mehr Macht - drehen zu können als in Düsseldorf?
Momentan nicht. Ich muss sagen, Nordrhein-Westfalen ist ein absolut starkes Land. Wenn man vergleicht, dann besitzen wir gut die Wirtschaftskraft der Niederlande. Außerdem habe ich ein unglaublich interessantes Ministerium, weil ich Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz kombinieren kann, und ich habe noch eine Menge Ideen, was sich verändern lässt.

Warum mag Joschka Fischer Sie so wenig?
Da müssten Sie ihn wahrscheinlich fragen.

Er stand mir nicht zur Verfügung, und er hätte es mir nicht gesagt. Aber ich habe mich umgehört, allgemein war die Antwort: Nein, der mag sie nicht besonders ...
Es gab eine Auseinandersetzung zwischen Joschka Fischer und mir seinerzeit über den Kosovo-Krieg und den Einsatz der NATO. Da habe ich sicher eine Rolle gespielt, die ihm nicht gefallen hat, was er danach auch sehr deutlich gesagt hat. Das ist vielleicht auch eine Antwort auf Ihre Frage, weshalb ich nicht nach Berlin gehe. Es ist auch nicht schlecht, wenn jemand außerhalb von Berlin, der relativ bekannt ist, sich zu bestimmten Themen in einer anderen Art und Weise äußert.

Könnte es der Mangel an Devotheit sein, der dem Spitzenkandidaten der Grünen an Bärbel Höhn missfällt?
Dass mein Vorgehen damals auf dem Parteitag zum Kosovo-Krieg unser Verhältnis wesentlich beeinflusst hat, das glaube ich auch. Da gab es eine Situation, in der es für ihn mit der Abstimmung durchaus eng, also gefährlich, werden konnte. Aber es ist schon so, dass wir in letzter Zeit besser klarkommen.

Wo verläuft für Sie die Grenze zwischen wertgebundenem Pragmatismus und Opportunismus?
Das Entscheidende ist, dass wir den Zielen, die sich aus den Werten ergeben, immer ein Stück näher kommen. Das ist der Pragmatismus zu sagen, ich habe jetzt nur einen kleinen Schritt getan, aber der geht in die richtige Richtung. Opportunismus wäre es, würde ich auch Sachen mittragen, die wirklich nur dafür da sind, dass man die Macht erhält.

Was sagt Ihr Gerechtigkeitssinn?

Können Sie Beispiele geben für Beschlüsse, bei denen Bärbel Höhn sagt, das war´s - ich verabschiede mich. Beim Kosovo-Krieg war es nicht so. Wann wird es soweit sein?
Das ist natürlich auch eine theoretische Frage. Momentan finde ich das Fundament meiner Partei noch sehr gut, weil sie sich sehr intensiv und sensibel auch mit so schwierigen Fragen wie Krieg und Frieden auseinandersetzt - und das auf sehr hohem Niveau, auch wenn man sagt, die Grünen werden immer mehr Regierungspartei.

Sie können derzeit kein Politikfeld erkennen, von dem Sie sagen, wenn meine Parteifreunde das betreten, werden sie es ohne mich tun müssen?
Im Augenblick sehe ich bei den Fragen von Krieg und Frieden oder den Menschenrechten, die mir sehr wichtig sind, dass ich mit meiner Partei ganz gut leben kann.

Was ist mit den sozialen Reformen, die von der rot-grünen Regierung in Berlin auf den Weg gebracht wurden - so notwendig sie sind oder nicht sind. Am Ende wird ein größerer Teil der Bevölkerung ärmer sein als vorher, ein sehr viel kleinerer Teil wird nicht ärmer geworden sein. Was sagt der Gerechtigkeitssinn von Frau Höhn zu dieser Sozialpolitik?
Ich glaube, dass wir da Defizite haben. Deshalb unterstütze ich auch Positionen, die sagen, wir müssen - in welcher Form auch immer - an eine Vermögenssteuer oder eine Erbschaftssteuer ran. Im jetzigen System haben wir eine wahnsinnige Belastung des Faktors Arbeit, während der Faktor Kapital oder der Faktor Ressource viel zu wenig belastet wird. Das führt zu Ungerechtigkeit und zu dieser hohen Arbeitslosigkeit. Deshalb sehe ich, dass wir bestimmte Änderungen vornehmen müssen, auch an der Agenda 2010 - das ist aus Gerechtigkeitsgründen nötig.

Und Gerechtigkeit ist für Sie ein Faktor von Realpolitik, nicht von Träumerei?
Genau, das ist einer der Gründe, weshalb ich Politik mache. Es kann nicht am Ende das Ziel sein, dass Reiche reicher und Arme ärmer geworden sind. Daher muss man bei der Agenda 2010 sagen, Leute, da fehlt noch etwas: Und das ist die Besteuerung von Kapital.

Was sagen Sie, wenn jetzt der Bundeskanzler sagt, die Grünen kotzen mich an? Und zwar in diesem Zusammenhang
In diesem hat er es ja nicht gesagt.

Wenn er es in diesem täte - danach frage ich.
Dann müssten ihn bestimmte Teile seiner Partei auch ankotzen, denn die haben dieselben Forderungen.

Gekürzte Fassung eines Interviews, das am 17. September vom RBB/ORB in der Reihe Zur Person ausgestrahlt wurde.

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