100 TAGE IM AMT Sportliche und konditionsstarke Auftritte in Bonn verdecken, daß die erste rot-grüne Regierung in Deutschland schon lange kein Projekt mehr hat
Seit ihrem Amtsantritt wurde gegen die Regierung Kohl demonstriert, gegen den Nato-Doppelbeschluß, Bildungsabbau und Sozialkürzungen. Bürgerinitiativen, Ökologie- und Friedensbewegung wollten 16 Jahre lang diese Politik ändern - und als Ergebnis markieren jetzt ein Autoverkäufer und ein Fischer den dicken Mann.
Aber so einfach mag der Oppositionelle von einst sich damit nicht bescheiden, und so mehren sich die Versuche, diese Entwicklung mit Sinn zu versehen. Für eine alte Partei wie die Sozialdemokraten ist die Besetzung der Regierungsstühle bereits Sinn genug, eine neue Partei wie die Grünen aber ist noch mit ihren Anfängen und unkonventionellen Ideen konfrontiert und muß den Wandel von der kritischen Bewegung zur regierungstreuen Par
treuen Partei reflektieren. Wer etwas über die rot-grüne Regierung erfahren will, findet zunächst Erklärungsmuster wie das von Andrej Markovits und Philip S. Gorski. In ihrem Buch Grün schlägt Rot verfahren sie nach dem Modell des klassischen Bildungsromans. Sie beschreiben den Weg von unreifen, chaotischen Revoluzzern bis hin zu verantwortungsbewußten Politikern, denen die Geschicke dieses mächtigen Staates unbesorgt anvertraut werden können. Mit umgekehrter Bewertung antwortet ihnen die Erzählung von der bürgerlichen Karriere: Ein Mann will nach oben; der Weg führt nur über den Verrat an den politischen Ideen, aber da unterwegs Karriere und Macht Selbstzweck geworden sind, spielt der ursprüngliche politische Antrieb keine Rolle mehr.Mit diesen beiden Erzählmustern konfrontiert, müssen die neuen Minister und Staatssekretäre sich nicht nur (noch) legitimieren, sondern, was schwerer fällt, auch mit ihrer Politik die Erzählung von der ordinären Karriere widerlegen. Bereits kurz nach den Koalitionsverhandlungen scheint der modus vivendi gefunden, der dazu noch dem Koalitionspartner in die Hände spielt. Während Schröder den grünen Umweltminister benutzt, um dem Kapital den loyalen Politiker und dem autoritätssüchtigen Kleinbürgertum den autoritären Macher vorzuspielen, macht sich Trittin das wilde Machtgebaren des Automannes zunutze, um der eigenen Klientel die ungebrochene Gefährlichkeit zu beweisen: Schröder muß immer auf mich aufpassen, also bin ich noch ein richtiger subversiver Grüner; und um diesen Anschein zu untermauern, wird der Umweltminister während seiner Amtszeit jede über die Straße getragene Kröte als irreversiblen Sieg des ökologischen Reformprojekts preisen.Doch was nützt alles Lamentieren, schließlich repräsentiert die rot-grüne Regierung »the only left that is left«. Materialistische Dialektiker erzählen immer wieder, daß das Wirkliche auch vernünftig ist. Müssen wir uns also damit abfinden, daß zur Zeit nicht mehr zu haben ist, und uns an dem gegenwärtigen Personal abarbeiten? Dafür spricht jedenfalls die Konjunktur kommunikativer Vorhaben. Unter der Kohl-Regierung war die öffentliche Kommunikation verpönt. Überall witterte der Kanzler subversive Gegenöffentlichkeiten; er betrieb sein Geschäft als geheimdiplomatische Kungelei und übrig blieben die immergleichen Phrasen und austauschbaren Ansprachen, die zunehmend lustloser ein Gespräch zwischen Regierung und Bevölkerung vorspiegelten. Zumindest hier hat tatsächlich ein Wandel stattgefunden. Unter rot-grün wird soviel geredet wie lange nicht mehr. Im Bündnis für Arbeit, in den »Konsensgesprächen» mit der Atomindustrie oder dem Koalitionsausschuß zwischen Rot und Grün, jenem merkwürdigen und in der Verfassung unbekannten Gebilde, das bereits kurz nach der Koalitionsvereinbarung die permanente Regierungskrise moderieren helfen soll, oder polemisch: dort, wo die Grünen lamentieren dürfen, wenn der Autoverkäufer ihnen wieder einmal ihre Machtlosigkeit vorgeführt hat.Mit der Taktik ostentativen Kommunizierens kehrt ein früheres sozialdemokratisches Erfolgsmodell wieder. Unter Willy Brandt diente das öffentliche Gespräch der Inklusion unter Adenauer ausgeschlossener sozialer Gruppen, vornehmlich der Intellektuellen. Es galt ein Problembewußtsein zu schaffen, unterschiedliche Interessen anzuerkennen und zu verhandeln. Nachdem unter Kohl soziale Gruppen aus dem System geworfen wurden, versucht sich sein Nachfolger wieder an der Inklusion. Allerdings dient Schröder die Kommunikation nur dazu, die Kapitalinteressen unter Einbeziehung der faktisch weiterhin ausgeschlossenen Gruppen politikfähig zu machen. Für ihren guten Willen werden Arbeiter, Studenten und Umweltschützer dann mit symbolischen Gratifikationen belohnt.Der Staat tritt hier nicht als Moderator auf, der den Konzernen im Sinne sozialen Zusammenhalts Zugeständnisse abhandeln will; die Konzerninteressen werden unbefragt vorausgesetzt, aber da die rot-grüne Regierung gewählt wurde, um einen sozialen Ausgleich der Interessen herbeizuführen, muß sie sich etwas einfallen lassen. Der Brite Tony Blair hat vorgemacht, wie es funktionieren kann. Mit seinem Slogan »bring the people together» gebärdet er sich, als wolle er die antike Agora wiederbeleben und sucht doch nur nach einem dritten Weg zwischen Bacardi und Coca Cola. Nicht mehr nur der Wahlkampf ist nach amerikanischem Muster durchgestylt, mit den europaweit regierenden Sozialdemokraten ist das Marketing nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern auch der politische Inhalt geworden. Blair und Schröder sind Werber, die ein vorgegebenes Produkt vermarkten und entsprechend ihr Vokabular und Verhalten darauf ausrichten, wobei Blair die pastorale, Schröder die brachiale Verkaufsstrategie bevorzugt.Das ist kein psychisches Problem der regierenden Sozialdemokraten. Sie reagieren damit auf den internationalen Bedeutungsverlust der Politik und fügen sich in ihr Schicksal. Daniel Bensaid, Autor des Buches »Lionel, qu'as-tu fait de notre victoire?«, hat in Le monde diplomatique einige Punkte notiert, die wieder zu nennenswerter staatlicher Politik führen würden: »Eine wirkliche Reformpolitik erfordert eine umfassende Steuerreform, eine ernsthafte Besteuerung zu Spekulationszwecken verwendeter Vermögen, eine drastische Senkung der Mehrwertsteuer und eine progressive Kapitalertragssteuer, um den produzierten Reichtum umzuverteilen, ohne die Nachfrage abzuwürgen.« Bensaid fällt noch einiges mehr ein, doch statt Politik hat sich auf den Regierungsbänken das betriebswirtschaftliche Denken der Großkonzerne eingenistet. Zu Hilfe kommt der Sozialdemokratie hierzulande, daß sie die ausgedünnte Elite der früheren Opposition kooptieren kann und damit die verbleibende Linke zwingt, sich an Fischer und Trittin die Zähne auszubeißen, Verrat zu schreien und das Trauerspiel zu kommentieren, wie in drei Jahrzehnten aus einer systemkritischen Opposition ein handzahmes Häuflein von Ministern wurde. Dabei verstellen Fischer genauso wie die ewigen 68er Revivals den Blick auf eine mögliche andere Periodisierung des außerparlamentarischen Widerstands in der Bundesrepublik. Die 68er protestierten gegen das Adenauer-Deutschland, gegen muffige Ordinarien und autoritäres Spießertum. Der jetzige Protest richtet sich aber gegen weltweiten Neoliberalismus, gegen den »flexiblen Menschen«, der, wie ihn Richard Sennet beschrieben hat, sich den Kapitalinteressen anschmiegen muß, und gegen ein von der Arbeitsgesellschaft entkoppeltes Finanzkapital. Ist es nicht von den »Helden« von einst zuviel verlangt, nach dem Adenauerstaat und der Großen Koalition Ende der sechziger Jahre auch noch den Neoliberalismus und die inoffizielle Große Koalition Ende der neunziger Jahre zu bekämpfen? Angekommen sind ohnehin nur die systemkompatiblen Protestierer; die Studenten und Ökos der ersten Stunde wurden im Vorfeld ausgeschaltet, und das politische System der Bundesrepublik hat bewiesen, daß es kritische Bewegungen weitgehend diszipliniert und auf zivilgesellschaftliche Wirkungen beschränkt. Kohl hat die entscheidende Arbeit geleistet, der Autoverkäufer erledigt den kümmerlichen Rest.Nicht zum ersten mal ist in Deutschland eine progressive politische Entwicklung zu spät gekommen. Kurz nach der Bundestagswahl antwortete Jürgen Habermas in einem Interview: »Ein rot-grünes Projekt gab es bis zum Ende der achtziger Jahre, solange man mit einem Sieg Oskar Lafontaines bei der nächsten Bundestagswahl rechnen konnte.« Aber da dieser Sieg ausblieb und Rotgrün erst an die Macht kam, als es keinen Gegner mehr zu besiegen galt, gibt es bereits lange kein Projekt mehr. Kohl wurde nicht geschlagen, er ist eines natürlichen politischen Todes gestorben. Doch statt sich erschöpft das eigene Scheitern einzugestehen, machen die Alternativen von einst auf sportlich und konditionsstark, denn keiner soll auf den Gedanken kommen, daß das Spiel von einst längst abgepfiffen ist und ein neues Spiel längst in einem anderen Stadion begonnen hat. Zu den ersten 100 Tagen der neuen Regierung siehe auch: Michael JägerDanton Co.
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