An diesem geschichtsträchtigen Sonntagmorgen des 9. November herrscht im Gorki-Theater ein wenig Aufregung. Shermin Langhoff, die Intendantin, unterstützt mit ihrem Haus die Aktion „Erster Europäischer Mauerfall“ des Zentrums für politische Schönheit. Rund 100 Aktivisten sind an die Außengrenze der EU gefahren, um sie mit Bolzenschneidern zu zertrennen; und auch, um am Spreeufer entwendete Mauerkreuze dort wieder aufzustellen. Die Aktion schlägt hohe Wellen. Shermin Langhoff steht in ständigem Kontakt mit den Aktivisten. Während wir sitzen und reden werden sie just die Grenze erreicht haben. Natürlich müssen wir Frau Langhoff zuerst danach fragen. Erst dann können wir über alle anderen Fragen sprechen.
Jakob Augstein: Der Präsident des Bundestags, Norbert Lammert, hat gesagt, die Aktion „Erster Europäischer Mauerfall“ wäre blanker Zynismus. Finden Sie das auch?
Shermin Langhoff: Es hat mich sehr bewegt, dass Herr Lammert das ohne einen Nebensatz gesagt hat. Er hat vergessen, auf die politische Diskussion und das Anliegen der Aktion hinzuweisen. Ich bin ehrlich gesagt sehr enttäuscht über ihn und darüber, dass an dieser Stelle keine politische Diskussion begonnen wird.
Jana Hensel: Katja Petrowskaja, Sie sind in der Ukraine aufgewachsen. Wie viel hat die EU-Außengrenze mit der Berliner Mauer zu tun?
Katja Petrowskaja: Historisch gesehen sind das für mich zwei unvergleichbare Dinge. Aber wenn man heutzutage Menschen dadurch sensibilisieren möchte, darf man die Berliner Mauer als Metapher benutzen, aber man sollte sie nicht mit anderen gleichsetzen. Sie war eine Konsequenz des Zweiten Weltkriegs und mit ihrem Fall war die Welt endlich von diesen Folgen befreit. Ich habe mich immer gefragt: Wie kann man in einem Land leben, das durch eine Mauer geteilt wird? Diese Normalität habe ich nie verstanden.
Augstein: Aber genau in der Frage nach der Normalität liegt doch die Analogie! Wie viel verbindet uns wirklich mit diesen Flüchtlingen? Empfinden wir ihnen gegenüber Solidarität oder nicht? Julia Franck, Ihr Leben war ja stets direkt mit der Mauer verbunden. Sie sind in Ostberlin geboren, mit acht in die BRD ausgereist, mit 13 allein nach Westberlin zurückgekehrt. Verstehen Sie, was Katja Petrowskaja nicht verstanden hat?
Julia Franck: Ich glaube, für diese als Normalität empfundene Anormalität gab es sehr komplexe Gründe und Ursachen. Auch ich sehe die Mauer als Konsequenz des Zweiten Weltkriegs, das aber ist in der alltäglichen politischen Wahrnehmung des Westens oft untergegangen. Ich glaube, das man dort relativ schnell dazu übergegangen ist, den Osten als so eine Art Club anzusehen, als eine Versammlung von Kommunisten, die alle ideologisch an der Mauer festhielten. Im Osten gab es andere Vorurteile, die aus einer großen Unerfahrenheit entstanden. Ich möchte das nicht als naiv belächeln, aber im Osten gab es den Glauben, dass im Westen alles möglich wäre. Die Vorstellung vom Paradies war geradezu märchenhaft. Am 9. November 1989 und an den Tagen danach spürte ich persönlich eine Beklommenheit; ich ahnte, welche Schwierigkeiten es in Bezug auf die gegenseitigen Missverständnisse geben könnte.
Julia Franck

Geboren 1970 in Ostberlin, reiste 1978 mit ihrer Familie in die BRD aus. Ihr literarisches Werk (zuletzt die Romane Lagerfeuer, Die Mittagsfrau, Rücken an Rücken) wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. Lagerfeuer wurde unter dem Titel Westen fürs Kino verfilmt
Augstein: Aber die gibt es doch immer noch. Wenn Bernd Ulrich in der Zeit schreibt, die Linkspartei sei wie die AfD. Sein Vorwurf: Die Linke relativiere das westdeutsche System, indem sie immer wieder frage: Welche Grade der Freiheit gibt es hier wirklich, welche Grade der Unfreiheit gab es in der DDR? Diese Sicht auf die Geschichte und auf das System des Westens wird von Bernd Ulrich damit total diffamiert, indem gesagt wird, ihr verwischt den zentralen Unterschied. Was sagt Ihnen das?
Franck: Was ist denn der zentrale Unterschied?
Augstein: Ich weiß es nicht, das ist ja nicht meine Haltung. Ich vertrete da, obwohl ich Westdeutscher bin, auch eher eine kritische Außensicht. Und das ist ja im Grunde der Vorwurf: Ihr stellt euch außerhalb des Systems und vergleicht ganz nüchtern, anstatt es mit allen Mitteln zu verteidigen. Genau das ist die Lammert-Reaktion.
Franck: Ich glaube, es gibt ein Missverständnis im Idealbild der westdeutschen Linken über die Verhältnisse in der DDR. Deshalb fallen die Reaktionen auf den Biermann-Auftritt im Bundestag auch so überempfindlich aus. Biermann ist ja vorsätzlich in die DDR gezogen, weil er Kommunist war. Irgendwann war er total entsetzt und empört darüber, wie sich der Kommunismus in der DDR gebärdet hat. Ganz konkret über die Staatssicherheit, über die Reglementierung. Für die westdeutschen Linken waren die Flüchtlinge aus der DDR Verräter der linken Ideologie oder Verfolgte, von denen sie forderten, ihr Verfolgtsein zum Thema zu machen. Ich denke da nur an Thomas Brasch, der sich gegen diese Vereinnahmung immer gewehrt hat.
Hensel: Offenbar verlieren West- und Ostdeutsche da an Differenziertheit, die Konflikte zwischen beiden Seiten nehmen wieder zu, indem die Dinge wieder viel stärker gegeneinandergesetzt werden. Shermin Langhoff, verstehen Sie das? Interessiert Sie das?
Langhoff: Ich würde da gerne noch einen Aspekt hinzufügen. Nämlich die Frage nach Demokratie oder Kapitalismus. Wir sprechen gerade von einem System, das sich in einer Krise befindet. Wegen unseres Systems stirbt jede fünf Sekunden ein Kind an Hunger. Und zwar nicht mehr, wie Karl Marx es analysiert hat, weil die Produktionsgüter fehlen, sondern weil unser System nicht will, dass sie gerecht verteilt werden. Was für ein System wird denn da verteidigt? Eins, das nicht funktioniert. Das die Grundlagen, nämlich Menschenrechte und Freiheit, mit Füßen tritt. Ich glaube, es ist wichtig, die Selbstreflexion unseres Systems einzufordern. Wie kann es sein, dass der Sozialismus das größte Problem zu sein scheint und die linke Opposition von Joachim Gauck und Wolf Biermann angegriffen wird? Wir haben kein Problem mit dem Sozialismus, wir haben ein Problem mit dem Kapitalismus.
Shermin Langhoff

Geboren 1969 in der Türkei, kam 1978 nach Nürnberg. Sie leitete das Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg und wurde 2012 zur Intendantin des Gorki-Theaters berufen, das nun bereits nach der ersten Spielzeit zum Theater des Jahres gewählt wurde
Augstein: Biermann und Gauck teilen jene Haltung, nach der die Abwesenheit der DDR gleich Freiheit ist. Für sie ist das Problem damit erledigt, die Revolution ist ja erfolgreich gewesen.
Petrowskaja: Aber das ist auch so.
Augstein: Aber ist das nicht letztlich das Thema, über das wir hier sprechen. Wir Autoren, Künstler, Theaterleute und Journalisten haben im Grunde alle den gleichen Job: Die Verhältnisse zu verändern und zu verbessern. Wir müssen für die Revolution hier sorgen, jene Revolution, die Sie, Katja Petrowskaja, auf dem Maidan hatten. Und wenn jemand sagt: Wir hatten ja im Osten schon eine Revolution und brauchen deshalb keine mehr, dann reicht mir das nicht.
Hensel: Aber es ist doch so: Wir in der DDR oder in der Ukraine haben eine Revolution gemacht, ihr im Westen redet nur darüber. Und am Ende sollen wir schuld sein, dass wir unsere gemacht haben und eure noch ausbleibt?
Petrowskaja: Ich störe mich an diesem „wir“. Ich glaube, Zugehörigkeit ist etwas, das man selbst wählt. Egal, wie man von außen beschrieben wird. Ich bin übrigens kein Migrant. Ich bin einfach gekommen. In meinem Fall war es aber auch einfach möglich.
Hensel: Sie sind ja der Liebe wegen nach Berlin gekommen, nun haben Sie Ihren Roman auf Deutsch geschrieben. Haben Sie gewusst, worauf Sie sich hier einlassen?
Petrowskaja: Das ist nicht wichtig. Im Leben hat man immer eine gewisse Vorstellung, einen gewissen Traum, Realität aber ist etwas anderes. Es wäre ein Denkfehler, Traum und Realität zu vergleichen. Die Deutschen fragen sich: Sind wir zufrieden mit der Wiedervereinigung oder sind wir es nicht? Natürlich nicht. Aber ist der Traum in Erfüllung gegangen? Natürlich, ja, das ist er!
Katja Petrowskaja

Geboren 1970 in Kiew, studierte in Kiew, Tartu, Stanford, New York und Moskau. Sie zog 1999 nach Berlin. Für ihren Roman Vielleicht Esther bekam sie den Ingeborg-Bachmann-Preis und den aspekte-Literaturpreis für das beste Debüt des Jahres 2014
Augstein: Julia Franck, Sie haben zwei Kinder. Wie erklären Sie denen die deutsche Teilung?
Franck: Nun, ich stelle mich nicht als Lehrerin vor meine Kinder und erteile ihnen eine Lektion. Ich erzähle ihnen eher manche Dinge, zum Beispiel wie der Bahnhof Friedrichstraße früher aussah und wie die Grenzübertritte vonstattengingen. Meine Urgroßmutter musste einmal ihre Brücken und Zähne an der Grenze rausnehmen lassen, weil man sie verdächtigte, Mikrofilme zu schmuggeln. Sie hatte Freunde und Verwandte in Israel, Frankreich, England, Amerika – und genoss als Jüdin in der DDR immer Reisefreiheit. Ihr einer Sohn lebte seit 1936 in Amerika, der andere in Wiesbaden, zwei Töchter in der DDR. Die Reparatur des Gebisses hat sehr lange gedauert und konnte nur durch die Hilfe eines Kieferorthopäden im Westen gelingen. Diese Episode zeigt deutlich, wie damals an diesen Grenzübergängen Macht demonstriert und auch Angst und Verunsicherung verbreitet wurden. Im Grunde zeigt sich hier ganz deutlich das Wesen dieser Diktatur.
Augstein: Zeigen Sie Ihren Kindern auch Bilder von der spanischen Exklave Melilla?
Franck: Natürlich schaue ich mir mit meinen Kindern auch Bilder von Flüchtlingsbooten an und wir sprechen darüber, was es bedeutet, nach Europa kommen zu wollen. Wir haben sehr viele kritische Gespräche über all das, was Menschen anderen Menschen antun.
Hensel: Shermin Langhoff, eine Ihrer Losungen im Gorki-Theater lautet: Nehmt Geschichte persönlich! Müssen wir ein neues Bewusstsein dafür schaffen, wie sehr wir in unserem Sein durch historische Ereignisse und Verläufe noch immer beeinflusst werden?
Langhoff: Wir sitzen hier in einem geschichtsträchtigen Haus, auf historisch kontaminiertem Boden. Daraus erwächst auch die Verantwortung, Geschichte persönlich zu nehmen. Das habe ich, die ja erst Deutsche werden musste, alles sehr ernst genommen. Deswegen sitze ich hier. Deswegen mache ich Theater. Das ist meine Motivation.
Augstein: Schaffen Sie es auch, sich gegen die tagespolitische Instrumentalisierung von historischer Erinnerung zu wehren?
Langhoff: Ich kann gar nicht anders, als mich wehren. Viele Menschen haben ihr Leben für die Demokratie gelassen, aber vermutlich nicht für die, die wir gerade erleben. Das nehme ich persönlich. Ich bin migriert und wenn wir heute in dieser Stadt über Freiheit und Grenzen sprechen, dann tun wir das aus einem postmigrantischen Moment heraus. Die Stadt besteht nicht nur aus sogenannten Ost- und Westberlinern, sondern auch aus den Neu-Berlinern.
Franck: Ich bin ja in Berlin aufgewachsen. Manche meiner alten Freunde sagen: Dieses Mitte, der Prenzlauer Berg, ich könnte da nicht mehr wohnen, da sind ja nur noch Touristen. Aber ganz ehrlich: Ich bin wahnsinnig froh darüber. Die Stadt hat sich durch die Menschen, die in den letzten 25 Jahren hierher gezogen sind, zu etwas Eigenständigem entwickelt. Jeder bringt sein eigenes Bild von Berlin mit und erzählt dadurch, was die Stadt für ihn sein könnte.
Petrowskaja: Gerade wegen des Zweiten Weltkriegs und der Mauer ist diese heutige Normalität nun wiederum für Berlin viel spürbarer und wertvoller als vielleicht in anderen Städten der Welt. Es gibt hier einen Konsens darüber, was Gut und Böse ist. Ich kam im Jahr 1999 aus Moskau und hatte im Gepäck ein erstickendes Gefühl aus verlorener Freiheit und Unbehagen über die Entwicklungen in der ehemaligen Sowjetunion. Und dann sah ich, was hier in Berlin erreicht wurde. Ich glaube, Deutschland braucht manchmal Ausländer, um zu verstehen, wie wunderbar Normalität sein kann. Natürlich gibt es Defizite in dieser Stadt. Aber es ist eine der friedlichsten Städte Europas; und es ist auch kein Zufall, dass hier heutzutage mehr als 30.000 Israelis wohnen. Das ist doch unglaublich!
Langhoff: Mir geht es genauso. Ich habe im deutschen Geschichtsunterricht über den Holocaust von dem Genozid an den Armeniern erfahren. Hier gibt es die Möglichkeit, zu erinnern und Konsequenzen zu ziehen. Da ist unser Land viel weiter als andere. Zum Beispiel in der Türkei, wo ich herkomme, gibt es riesige und schmerzhafte Lücken in der Erinnerung. Dass das einem Land nicht guttut, kann man deutlich sehen. Trotzdem dürfen wir nicht vergessen, dass es eine gegenläufige Genealogie gibt, an die wir an diesem 9. November erinnern müssen. Dass zum Beispiel die Kommunisten, die dem Faschismus Widerstand geleistet haben, diejenigen waren, die nach dem Krieg als Erste wieder ein Berufsverbot im Westen bekamen. Und wir wissen aus der NSU-Geschichte, wie weit Gedanken, bestimmte Strukturen in den Institutionen verwurzelt waren und sind. Das sind Fakten, die wir nicht ausblenden dürfen, auch wenn es uns gelingt, unsere Geschichte zu erinnern und Mahnmale zu errichten.
Hensel: Wenn ich Sie reden höre, frage ich mich, warum Sie dieses Theater machen. Ich bin ja ein großer Fan dieses Theaters, weil ich finde, es basiert auf einem ganz einfachen Gedanken: Sie holen jene Realität, die auf der Straße stattfindet, endlich so selbstverständlich auf die Bühne wie kaum ein anderes. Ich frage das, weil Sie Katja Petrowskaja beigepflichtet haben, dass Deutschland so viel geschafft hat. Aber wenn es so wäre, müsste es Sie nicht geben. Oder anders gesagt, es gäbe viel mehr als nur Sie.
Langhoff: Man darf nicht vergessen, dass Hybridität in der Kultur gerne gesehen wird. Ich wurde in den vergangenen Jahren viel gelobt und gestreichelt, aber Sie sehen nun, sobald ich mein Terrain verlasse, wird es problematisch. Eines ist dabei wichtig zu sagen: Die gleichen Rechte gibt es da draußen immer noch nicht. Ich habe vor 30 Jahren in einer Kampagne Modell gestanden, die für ein kommunales Wahlrecht für Ausländer warb. Nach wie vor ist das in der Bundesrepublik immer noch nicht durchgesetzt. Das heißt, dass ein Mensch, der hier mitunter seit Jahrzehnten wohnt, nicht über den Spielplatz auf der anderen Straßenseite mitbestimmen kann. Das heißt, es gibt keine Rechte, die gewonnen sind. Insofern liegt da noch viel vor uns.
Petrowskaja: Ich bin seit 15 Jahren im Prenzlauer Berg und kann nicht lokal wählen, wie viele, viele andere auch. Es ist skandalös.
Franck: Das gilt nicht nur für das Wahlrecht, sondern auch im Bildungssektor. Hier stehen Migranten nicht dieselben Möglichkeiten offen. Da ist noch viel zu tun. Aber ich würde auch sagen, dass Deutschland im Vergleich zu den USA oder Osteuropa ein Boden ist, auf dem Veränderungen stattfinden können. Hier können bestimmte Dinge diskutiert werden und Menschen wie Shermin Langhoff treten streitbar auf, ohne sich hinter politischen oder parteilichen Etiketten zu verstecken. Diese Offenheit gründet auch in unserer Geschichte und darin, wie wir mit Geschichte umgehen mussten. Da verstehe ich, warum man nach Berlin kommt, und ich verstehe, warum Deutschland so attraktiv ist, auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern.
Augstein: Es gibt einen Begriff, über den wir noch nicht genug geredet haben, nämlich Identität. Wir beobachten momentan eine Re-Muslimisierung von bestimmten migrantischen Schichten. Wir beobachten eine Re-Ossifizierung. Leute kommen zurück zu ihrer ostdeutschen Identität.
Hensel: Ich beobachte eine Re-Wessifizierung. Es erscheinen Texte, in denen steht, wie schön es war, als Helmut Kohl Deutschland regierte. Nach dem Motto: Ein Mann war noch ein Mann und Geld war noch Geld.
Augstein: Aber das ist doch eine beunruhigende Beobachtung! Oder ist das eine fast zwangsläufige Entwicklung?
Franck: Natürlich gibt es diese Tendenzen. Natürlich erschrecke ich auch, wenn ich in der U-Bahn zwei ganz offensichtlich westdeutsche Menschen höre, die völlig ungehemmt darüber schimpfen, wie fürchterlich dieser Osten und diese Ostdeutschen sind. Das finde ich pittoresk, dafür fahre ich U-Bahn. Den Menschen so auf den Mund schauen, das können Zeitungen ja kaum. Persönlich habe ich mich nie dazu aufgerufen gefühlt, mich für die eine oder die andere Seite entscheiden zu müssen oder in irgendwelche Parteien einzutreten.
Langhoff: Ja, es scheint eine Identitätssuche, eine Sinnsuche zu geben. Ich glaube, wir haben es aber vor allem mit dem Effekt zu tun, ständig zu etwas anderem gemacht zu werden. Seit dem 11. September 2011 werde ich überhaupt erst als Muslima gesehen. Ich bin aber gar keine Bekennerin! Ich bin Agnostikerin und war lange überzeugte Atheistin. Nun musste ich auf einmal als aufgeklärter Mensch, der gelernt hat, Minderheiten zu beschützen, die „Muslime“ und den „Islam“ verteidigen. Was mir manchmal wirklich schwerfällt. Es gibt Statistiken, die besagen, dass 40 Prozent der Deutschen es sich nicht vorstellen können, dass eine Deutsche ein Kopftuch trägt. Das sind nicht alles Rassisten, aber mit dieser Vorstellung können wir nicht umgehen. Manchmal denke ich darüber nach, ob ich nicht anfangen sollte, auch ein Kopftuch zu tragen! Aber diese Entwicklung liegt meiner Meinung auch daran, dass von der Politik ein bestimmtes Islambild konstruiert und geschaffen wird. Dabei geht es immer auch um ökonomische Interessen; jene Interessen, die dann zu Vorurteilen werden à la: Wir Westdeutschen haben jetzt 25 Jahre die Ossis finanziert! Oder: Die Türken nehmen uns die Arbeit weg und schaffen das ganze Geld in die Türkei! Es ist der ökonomische Kontext, der Identitäten viel stärker neu konstruiert, als wir glauben. Das verbindet dann Türken und Ostler.
Petrowskaja: Ich finde es ganz wichtig zu fragen, zu welchem „wir“ gehöre ich? Und wer sind diese anderen? Was mich in Deutschland wundert, ist: Warum wird ständig über die Ossis gesprochen? Man redet einerseits über die brutale und schmerzhafte Teilung Deutschlands, andererseits spricht man über Ossis und Wessis, als wäre es eine fertige Form, die sich über Jahrhunderte entwickelt hat. Dabei sollte es so sein, als hätten sich beide ohne den anderen nicht vollkommen gefühlt. Auch ich bin übrigens in letzter Zeit immer mehr zur Ukrainerin und Jüdin geworden. Ständig werde ich gefragt, ob ich Ukrainerin oder Russin bin, und ich weiß schon gar nicht mehr, was ich antworten soll. Warum entweder oder? Identität ist tatsächlich dann eine Freiheit, wenn man nicht in etwas hineingezwungen wird. Identität sollte etwas sein, das man sich selbst schafft und das man selbst annehmen kann.
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