Erdbeben Expert:innen erwarten in Istanbul bis 2030 ein Erdbeben der Stärke 7. Bewohner:innen können sich kaum vorbereiten. Was das mit einem macht, ist kaum vorstellbar. Wie das drohende Beben das Leben in Istanbul unerträglich macht
Während der Ausschläge des Nachbebens in der Türkei hofft Fikriye Topuz für Istanbul auf Verschonung
Foto: Deniz Barış Narlı
Nachdem sie fast 25 Jahre lang in Angst gelebt hat, richtet sich Fikriye Topuz, 65, am 5. Februar endlich in ihrem neuen Haus in Istanbul ein. Am späten Abend räumt sie Gläser und Pfannen in die Küchenschränke, saugt den Boden und schläft vor dem Fernseher ein. In den frühen Morgenstunden wacht sie zu verheerenden Nachrichten auf: Zwei schwere Erdbeben haben in den südlichen Städten der Türkei Tausende von Gebäuden zerstört. „Ich war verzweifelt“, sagt Topuz. „Aber ich hatte auch das bittere Gefühl, froh zu sein, dass ich gerade umgezogen bin, nachdem ich gesehen habe, was passiert ist.“
Offiziellen Angaben zufolge starben bei den beiden Erdbeben, die die Stadt Kahramanmaraş am 6. Februar ersch
erschütterten, mehr als 45.000 Menschen. Während im Osten des Landes Millionen Tonnen von Trümmern beseitigt werden, um Platz für neue Gebäude zu schaffen, geht im Westen des Landes die Angst um.Nach Angaben des Kandilli Observatory and Earthquake Research Institute liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Istanbul bis 2030 von einem Erdbeben der Stärke 7 heimgesucht wird, bei 64 Prozent. Der Bericht der Istanbuler Planungsbehörde geht davon aus, dass im Falle eines Erdbebens in der Metropole fast 500.000 Gebäude gefährdet sind.Topuz erinnert sich nur zu gut an das Marmara-Erdbeben von 1999, bei dem mindestens 17.000 Menschen starben. Auch der Stadtteil Avcılar im Südwesten Istanbuls, in dem sie wohnt, war betroffen. Sie lebte deshalb einen Monat lang in einem Zelt. Topuz wohnt jetzt nicht weit von ihrer alten Wohnung entfernt, in der die Risse in den Außenwänden zu sehen sind, der Putz ist an einigen Stellen beschädigt. Sogar einige Eisenstangen ragen aus dem Beton. „Kratzt man an den Wänden, fallen einem die Sandkörner in die Hand“, sagt Topuz. Nach dem Erdbeben von 1999 wurde ein Schadensbericht für das Gebäude erstellt, Verbesserungsmaßnahmen wurden jedoch nicht vorgenommen.Viele Gebäude in Istanbul haben noch Schäden vom Beben 1999Nach dem Erdbeben von 1999 wären zwar Studien zur Bewertung der Schäden an den Gebäuden durchgeführt worden, sagt der Präsident der türkischen Architektenkammer, Eyüp Muhçu. Trotzdem wurden erdbebengefährdete Gebäude, die hätten abgerissen werden müssen, nicht abgerissen. In einigen Fällen seien sie unsachgemäß verstärkt worden, oder es seien Renovierungen vorgenommen worden, damit es wie ein neues Gebäude aussieht: „Das ist keine tiefgreifende Nachrüstung, sondern nur Make-up“, sagt Muhçu.Was die Sache noch schlimmer macht, ist die von der Erdoğan-Regierung zuletzt 2018 erlassene Bauamnestie. Die illegal bestehenden Gebäude wurden damals auf einen Schlag per Gesetz legalisiert. Muhçu sagt, dass in einigen Fällen die Gebäude noch mit zusätzlichen Stockwerken aufgerüstet wurden. Trotz dieses Vergehens waren auch diese Bauten von der Amnestie gedeckt: „Es ist nicht möglich, dass eines dieser Gebäude das Erdbeben überlebt“, so der Istanbuler Architekt.„Ich dachte immer, da ich im obersten Stockwerk wohne, hätte ich mehr Glück als die anderen, wenn das Haus bei einem Erdbeben zusammenstürzt“, sagt Fikriye Topuz. Sie arbeitet als Haushaltshilfe, ihr Mann ist Gelegenheitsarbeiter. Aufgrund der mangelnden finanziellen Mittel konnten sie bisher nicht umziehen. Als sie im vergangenen Jahr eines Tages nach Hause kam, stellte sie fest, dass ein Teil des Dachs eingestürzt war. Das war der Wendepunkt für sie. Sie hatte das große Glück, mithilfe ihrer Nachbarin in das neue Haus auf der anderen Straßenseite umziehen zu können. Aber so viel Glück wie sie hat nicht jeder in Istanbul.Die Lebenshaltungskosten in der Metropole waren für viele Menschen schon lange vor dem letzten Erdbeben ein großes Problem. Nach Angaben des türkischen Statistik-Instituts erreichte die Inflation im Oktober einen 25-Jahres-Höchststand von 85,5 Prozent und lag im Februar bei 55 Prozent; unabhängige Experten halten diese Zahlen jedoch für sehr optimistisch. Da die türkische Lira an Wert verliert, haben sich die Mietpreise in Istanbul laut dem Immobilienindexbericht der türkischen Zentralbank zwischen 2020 und 2022 verdreifacht. Die Vorschriften, die von der Regierung für den Zufluss von ausländischem Kapital gelockert wurden, sowie die Erleichterungen bei Staatsbürgerschaften führten dazu, dass viele ausländische Bürger Wohnungen kauften, um Steuern oder Sanktionen in anderen Ländern zu umgehen, was die Preise noch weiter in die Höhe trieb.Placeholder image-2Infolge des jüngsten Erdbebens sind derzeit mehr als eine Million Menschen migriert, was zu einem weiteren Anstieg der bereits hohen Preise führt. Die Entscheidung der Regierung, die Mieterhöhungen vorsorglich auf 25 Prozent zu begrenzen, führte dazu, dass viele Vermieter sich dafür entscheiden, ihre angestammten Mieter zu vertreiben. Viele Menschen sind gezwungen, ihre Häuser gegen ihren Willen zu verlassen, und diejenigen, die sich dagegen wehren, müssen mit komplizierten Gerichtsverfahren rechnen. Aber das wollen die wenigsten.Ecem Şahbazlar, 27, hat Jura studiert und ist derzeit arbeitslos. Als sie zu Besuch bei ihrer Familie ist, erhält sie einen Brief, in dem ihr mitgeteilt wird, dass ihre Wohnung verkauft und sie deshalb gekündigt wurde. Auf Nachfrage teilt ihr der neue Vermieter mit, dass seine eigene Wohnung bei einer Erdbebeninspektion beschädigt worden sei. Daher müsse er in ihre Wohnung umziehen. Die Juristin weiß nicht, was sie davon halten soll.Ihre Wohnung im Istanbuler Stadtteil Beşiktaş kostet 4.400 Lira, umgerechnet 220 Euro, was für den derzeitigen Markt sehr günstig ist. Sie weiß nicht einmal, ob das Haus, in dem sie lebt, erdbebensicher ist, und zweifelt an den Absichten des Vermieters: „Ich habe ihm nicht geglaubt. Ich habe einen Kaufvertrag verlangt, ich wollte die Tests der Erdbebeninspektion sehen. Ich habe gefragt, ob das Haus, in dem ich wohne, Mängel aufweist.“ Sie erwägt nun, nach İzmir an der Westküste zu ziehen, in das Haus ihrer Familie, obwohl die Hafenstadt keineswegs sicher vor Erdbeben ist.Im Jahr 2020 kamen bei einem Erdbeben in der Ägäis vor der Küste der Stadt 120 Menschen ums Leben.Obwohl sie das Gefühl hat, nicht dorthin zu gehören, meint sie, keine andere Wahl zu haben. Auch in ihrer Wohnung in Istanbul fühle sie sich nicht sicher. Sie hat Freunde in derselben Gegend, die mangels Alternativen in beschädigten Wohnungen leben. Şahbazlar sagt, dass auch sie versuchen, einen Trost in der Tatsache zu finden, dass ihre Wohnungen in den obersten Stockwerken liegen. Für sie käme das nicht infrage: „Ich kann so nicht leben.“Sichere Wohnungen sind wegen der hohen Mieten unbezahlbarDie Juristin hat wenig Vertrauen, dass die Regierung in der Lage sein wird, die Stadt rechtzeitig auf das bevorstehende Erdbeben vorzubereiten. Sie hält es für sinnvoller, die Türkei zu verlassen: „Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass mir das Leben entgleitet.“ Sie denkt an ihre Tante, die in den 1970ern nach Stuttgart auswanderte. „Ich denke daran, wegzugehen. Nicht aus dem Wunsch nach einem besseren Leben heraus, sondern weil es hier kein Leben gibt.“Hacer Foggo, Aktivistin und Gründerin des Deep Poverty Network mit Sitz in Istanbul, erforscht seit Langem die Auswirkungen der Wirtschaftskrisen auf die von Armut betroffene Bevölkerung. Sie sagt, dass die Ärmsten immer diejenigen sind, die nirgendwohin gehen können: „Das war in Kahramanmaraş der Fall, nach dem Erdbeben, und das ist in Istanbul der Fall, wo die Menschen schon lange in unsicheren Häusern leben.“ Foggo sagt, dass die Mietpreise teilweise über dem Mindestlohn liegen, insbesondere in den Armenvierteln Istanbuls. Dies führe dazu, dass die ärmere Schicht befürchtet, auch das wenige, was sie hat, zu verlieren, da sie nicht in der Lage sei, woanders zu wohnen, wenn sie die Häuser verlässt. „Die Mieten sind einfach nicht bezahlbar“, so Foggo.Die Gesetze, die nach dem Erdbeben von 1999 erlassen wurden, um Istanbul auf das große Erdbeben vorzubereiten, lösten einen Bauboom aus, wobei vor allem arme Viertel gentrifiziert oder Luxuswohnungen in bereits wohlhabenden Vierteln gebaut wurden. Foggo glaubt an die Notwendigkeit einer Stadtentwicklung, die die Menschen in den Mittelpunkt stellt und nicht den Profit, bei der abgerissene Gebäude nach dem ursprünglichen Plan wieder aufgebaut und an die Menschen vergeben werden, die bereits dort leben.Placeholder image-1Doch in manchen Fällen fürchten die Menschen Inspektionen, anstatt sie zu begrüßen. In einigen Fällen ist die Unwissenheit mangels Alternativen ein Segen.Duru, 34, die ihren Nachnamen nicht preisgeben will, lebt in einem 50 Jahre alten Gebäude auf der asiatischen Seite Istanbuls, in Acıbadem. Laut dem Ministerium für Umwelt und Stadtentwicklung gilt jedes Gebäude, das vor 2000 gebaut wurde, als potenziell gefährlich und gefährdet. Nach dem Erdbeben in Kahramanmaraş hat die Stadtverwaltung von Istanbul begonnen, kostenlose Erdbebeninspektionen anzubieten. Als Duru davon erfuhr, wollte sie wissen, ob das Gebäude, in dem sie lebt, sicher ist. Sie schrieb in der Whatsapp-Gruppe ihrer Nachbarschaft, dass sie eine Inspektion wünsche.Die Antwort überraschte sie: „Keiner hat geantwortet. Eine tiefe Stille“, sagt Duru. Nach einer Weile schrieb ein weiterer Bewohner in die Gruppe, aber immer noch keine Antwort. Einige Tage später meldete sich der Hausverwalter bei Duru und teilte ihr mit, dass die Vermieter befürchteten, im Falle einer Beanstandung der Wohnung finanzielle Nachteile zu erleiden. Diese Reaktion ließ Duru noch mehr an der Sicherheit des Gebäudes zweifeln, in dem sie lebt: „Wie sicher mein Gebäude ist, weiß ich nicht. Aber ich bin nicht in der Lage, umzuziehen. Die Mietpreise beginnen bei 15.000 Lira (etwa 750 Euro). Das ist alles, was ich verdiene.“Wenn Fikriye Topuz heute aus dem Fenster ihres neuen Hauses hochschaut, kann sie von dort noch ihre alte Wohnung sehen. Sie hat ein lebensfrohes, pinkfarbenes Sweatshirt an und sieht müde aus. „So ist das Leben“, sagt sie bedrückt, während sie langsam an ihrer Zigarette zieht. Sie drückt die Zigarette aus und tritt aus ihrer neuen Wohnung auf den Hausflur. Fikriye Topuz sagt noch, sie wünsche sich, dass alle Leute in erdbebensicheren Gebäuden leben können. Sie macht sich Sorgen, dass sich die Menschen wegen der hohen Mieten in Istanbul keine sicheren Wohnungen leisten werden. „Wir sind jetzt alt. Wir wollen in Frieden leben. Möge Gott nie wieder solch ein Leid zulassen.“Die Schuhe der anderen Familienmitglieder sind am Eingang des neuen Hauses aufgereiht. Auch ihre Tochter, die zu Besuch ist, fragt sich, ob ihr Haus sicher ist. Auf der Fußmatte, auf der sich die Schuhe stapeln, steht der Satz: „There is no place like home.“Placeholder authorbio-1