Jagdszenen am Strand

In Genua wurde bewusst die rote Linie überschritten Der Protest gegen die Globalisierung soll beendet werden - notfalls mit staatlicher Gewalt

Keiner mag es glauben. Und doch: Hat sich in Genua das Undenkbare zugetragen? 18 junge Menschen seien spurlos verschwunden, sagt der Arzt Vittorio Agnoletto, seit italienische Militärs, Polizisten, Geheimdienstler und nicht identifizierte Schlägertrupps den Protest gegen den Gipfel der G 8 in einer Orgie staatlicher Gewalt erstickten. Agnoletto ist keine neutrale Quelle. Er leitet das Genoa Social Forum, das den Protest organisierte. Aber die Verschwundenen sind namentlich bekannt. Anwälte haben die Spitäler des Landes abgesucht, ergebnislos. Die seien wohl ans Meer gefahren, frotzelt Außenminister Renato Ruggiero, den man bislang für einen zivilisierten Mann gehalten hatte. Nein, sagt die Opposition, die Verschwundenen seien nicht am, sondern wohl im Meer, von den Ordnungshütern ertränkt. Agnoletto vermutet, die 18 würden derzeit in Armeespitälern zusammengeflickt, um die schlimmsten Spuren der Misshandlungen zu tilgen. Wahrscheinlich werden sie wieder auftauchen.

In Rom heißt Berlusconi jetzt »Pinochet«. Amnesty International hat eine lange Liste von Menschenrechtsverletzungen zusammengetragen. Reporter ohne Grenzen berichtet von mehr als einem Dutzend vorsätzlich zusammengeschlagener Journalisten. Täglich tauchen neue Videos auf. Das staatliche Fernsehen RAI dokumentiert, kommentarlos, wie Polizisten am Strand Badende jagten, darunter Kinder.

Die Polizeitaktik war - anders als bei den Protesten in Nizza oder Québec - auf die Anzettelung einer Bürgerkriegslage angelegt. Statt nur die rote Zone um die Staatschefs zu schützen, provozierten Trupps überall in der Stadt Scharmützel. Nachdem ein Carabiniere den Demonstranten Carlo Giuliani erschossen hatte, wurde jede Tat der Polizei ein politischer Akt. Der nächtliche Überfall auf das Genoa Social Forum, die Vorgänge in Bolzaneto, die Massenverhaftungen geschahen nach den Todesschüssen. Aus Rom eingeflogene Schläger gaben an, »von oben gedeckt« zu sein: »Uns gibt es eigentlich gar nicht«, sagten sie. Der Premier und seine Minister, darunter etliche Neofaschisten, haben die Schlacht um Genua inszeniert - Italien war, zumindest für einige Tage, kein Rechtsstaat mehr. Würde an Berlusconis Regime der Maßstab europäischer Werte gelegt, wie an das Österreich von Jörg Haider, müsste Italien sogleich isoliert werden. Doch in London, Berlin, Paris ist kaum mehr als ein betretenes Räuspern zu hören.

Der Protest, weltweit vernetzt, irritiert die Machthaber ernsthaft. Wer zugehört hat, wie etwa Gerhard Schröder die Revolte abkanzelte, wer die Aufrüstung der Polizei und die zunehmende Bespitzelung der Opposition beobachtet, mag einen Verdacht nicht verwerfen, den Christophe Augiton von Attac formuliert: »In Genua wurde eine rote Linie überschritten, dem Protest gegen die Globalisierung ein Ende zu setzen.«

Da zeichnet sich, im schlechten Falle, eine autoritäre Ordnung ab. Der Umbau der Welt im Interesse des Kapitalmarktes wird kaum ohne wachsende soziale Spannungen geschehen. »Wie viele Angestellte von deinen 16.000 brauchst du wirklich?« fragte auf einem Kongress der Manager David Packard den Kollegen John Gage (Sun Microsystems). »Sechs, vielleicht acht«, sagte Gage, »der Rest ist Rationalisierungsreserve.« Nur etwa 20 Prozent der heute Beschäftigten würden genügen, die Weltwirtschaft in Gang zu halten. Die restlichen 80 Prozent seien ruhig zu stellen, mit Sex und Unterhaltung (tittytainment), notfalls mit Repression. Doch ihre Wunschwelt, die 20 : 80-Gesellschaft, werden die Packards ohne Bürgerkrieg nicht bekommen. Aber ihre Spekulation beleuchtet die Wucht der Vorgänge.

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