Die neue "Politik für Vollbeschäftigung" innerhalb der EU orientiert sich eher am Leitbild des mittelalterlichen Arbeitshauses als an tradierten sozialdemokratischen Idealen. Das "Reformpaket" erweist sich als Teil einer Strategie, mit der Fundamente des Europäischen Sozialmodells erschüttert werden. Es folgt insgesamt der Logik des "Dritten Wegs", trotz mancher alt-sozialdemokratischer Einsprengsel hier und da. Tatsächlich jedoch entwirft die neue Wirtschaftspolitik das Konzept für eine Zweidrittel-Gesellschaft eigener Art. Die konfliktfähigen Gruppen - qualifizierte Erwerbstätige vom Facharbeiter bis zum "Symbolanalytiker" sowie die Unternehmer - versucht man durch eine Konsenspolitik aneinander zu binden, als deren Primat die "Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa" anzuerkennen ist. Sie sollen von einer Politik der Steuersenkung und der Beitragsstabilisierung in der Sozialversicherung profitieren. Durch die Beteiligung an Investment- und Pensionsfonds können sie überdies am Höhenflug der Börsenkurse so teilhaben, dass sich das Einfrieren und Kürzen sozialversicherungsrechtlicher beziehungsweise sozialstaatlicher Leistungen verkraften lässt. Solange der Börsenboom anhält, mögen vor allem junge Menschen an die Tragfähigkeit dieser Alternative glauben - wie in ihren Kindertagen an den Weihnachtsmann.
Hoffnungen des unteren Drittels auf jeden Fall erhalten
Die konfliktunfähigen Gruppen indes - marginalisierte Jugendliche, Frauen ohne höhere Qualifikation, Migranten, ältere Arbeitnehmer und die sozial Ausgeschlossenen - werden im "Eisernen Käfig" von Niedriglohnarbeit, Teilzeitjobs und prekärer Beschäftigung ruhig gestellt und nach dem Motto "Fördern und Fordern" repressiv integriert. Jeder soll das Gefühl haben, nicht allein gelassen zu werden. Das ist der Unterschied zur Philosophie Margaret Thatchers, die bekanntlich "nur Individuen, aber keine Gesellschaft" kannte. Das Europa des "Dritten Weges" betont dagegen die Kräfte und Mechanismen, die eine Gesellschaft als solche zusammenhalten.
Den Modernisierungsgewinnern wird das Gefühl vermittelt, "Solidarität" mit dem unteren Drittel zu üben. Schließlich bietet eine "aktivierende Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik" jedem eine "zweite Chance", sich als erwerbsfähig zu bewähren. Für das untere Drittel winkt das Versprechen, dass man etwas oberhalb des Existenzminimums irgendwie zurecht kommen kann, wenn man sich nur bemüht. Das wirkt immer noch besser, als für völlig überflüssig erklärt zu werden, wie weiland bei Margaret Thatcher und Ronald Reagan. Gleichzeitig fungieren beide Gruppen als Projektionsfläche für Erwartungen: das untere Drittel wiegt sich stets in der Hoffnung, durch eigene Qualifizierungsanstrengungen doch noch den Anschluss an die schöne Welt der Modernisierungsgewinner zu finden. Letzteren dient das untere Drittel als abschreckendes Beispiel, wohin man rutschen kann, wenn man sich nicht genügend den Erfordernissen der Globalisierung anpasst. Insgesamt, so die Hoffnung der Parteigänger des "Dritten Weges", stabilisieren die Projektionen beider Gruppen den "sozialen Zusammenhalt" dieser Art von Gesellschaft.
Während die europäische Sozialdemokratie so Stück um Stück das Ziel einer egalitären, solidarischen Gesellschaft zur Disposition stellt, muss die sozialistische Linke inzwischen sogar für den Erhalt liberaler Bürgerrechte kämpfen - etwa das Recht auf Freiheit der Berufswahl oder den Schutz erworbener Qualifikationen gegen die Zwangsangebote des "Förderns und Forderns". Europa braucht daher eine Alternative zum "Dritten Weg", wenn das Europäische Sozialmodell erneuert werden und die Gesellschaft zukunftsfähig sein soll. Der Streit geht um den Gehalt jener "neuen Vollbeschäftigung", den Kommission und Regierungen zum europäischen Leitziel erheben wollen.
Der geforderte Abschied vom patriarchalischen Modell des männlichen "Familienernährers" weist in die richtige Richtung. Allerdings ist das alternative Leitbild des Doppelverdiener-Haushalts und einer Individualisierung der Steuer- und Sozialversicherungssysteme in der EU nur sehr unvollkommen verankert. Vielleicht mit Ausnahme von Dänemark und Schweden basieren die Haushalte mit zwei Einkommen in Europa in der Regel auf männlicher Vollzeitbeschäftigung und weiblicher Teilzeitbeschäftigung. Reale Chancengleichheit für Frauen herzustellen und Erwerbs- und Hausarbeit zu gleichen Teilen zwischen den Geschlechtern aufzuteilen, bleibt immer noch die große Reformaufgabe. Egalitäre Erwerbsmuster erfordern einen massiven Ausbau öffentlicher Kinderbetreuungseinrichtungen und individualisierte Steuersysteme mit spezifischen Transferleistungen für Kinder (Sockelbeträge, erhöhtes Kindergeld) - unabhängig davon, ob beide Elternteile arbeiten oder verheiratet sind.
Schlüsselbegriffe der achtziger Jahre neoliberal gewendet
Neue Vollbeschäftigung zielt auf qualifizierte, angereicherte Erwerbsarbeit mit auskömmlichen Einkommen - das US-Modell mit einer breiten Schicht arbeitender Armer kann kein Vorbild für Europa sein. Deshalb wird ein anderer policy mix benötigt, als ihn die Europäische Kommission und die Regierungschefs vorschlagen: Gebraucht wird eine europaweit koordinierte expansive Haushaltspolitik zur Stärkung öffentlicher Investitionen und zukunftsfähiger Infrastrukturen, eine gelockerte Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), eine moderne Innovationspolitik im Dienste des ökologischen Umbaus, gebraucht werden Wirtschaftsreformen, um die Finanzmärkte zu regulieren, die Binnenwirtschaft zu kräftigen und regionale Wirtschaftskreisläufe auszubauen. Es geht um Investitionen in qualifizierte Dienstleistungen auch im Öffentlichen Dienst und in einem neuen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor (ÖBS), so dass Sozial- und Kulturwirtschaft, Stadterneuerung und Umweltschutz davon profitieren. Insofern ist eine europäische Politik der kollektiven Arbeitszeitverkürzung, die gleichzeitig die Zeitsouveränität des Einzelnen fördert, die entscheidende Säule einer Vollbeschäftigung mit egalitären Erwerbsmustern.
Die "neue Sozialdemokratie" hat linke Schlüsselbegriffe der achtziger Jahre neoliberal gewendet und ihre ursprünglichen Inhalte verdreht: von der "Vollbeschäftigung" über die "Teilhabegesellschaft", die "Zukunftsfähigkeit", das "Empowerment" bis hin zum "aktiven Staat". Sie nutzt damit verbundene Hoffnungen auf eine solidarische Zukunft, um Wasser auf die Mühlen ihres "Dritten Weges" zu leiten.
Die europäische Linke muss daher frei nach Antonio Gramsci einen Kampf um die Köpfe führen, der gleichzeitig ein Kampf um den aktualisierten Inhalt dieser Leitbegriffe ist. Die Alternative einer sozialen und ökologischen Politischen Union Europas kann nur in direkter Auseinandersetzung mit den Schlüsselkonzepten des "Dritten Weges" diskurs- und konfliktfähig werden.
Die Chance der Linken liegt in den Widersprüchen der neu-sozialdemokratischen Strategie selbst. Die Entfesselung der Märkte und die Internet-Revolution werden nicht jenen Zuwachs an Arbeitsplätzen bringen und damit jene soziale Stabilität herbeiführen, die es erlaubt, jegliches gesellschaftliches Konfliktpotenzial still zu legen. Die Neue Mitte ist kein festgefügter Block - sie wird sich als Oben und Unten wiederfinden. Also sollte es die politische Kunst im Erneuerungsprozess der europäischen Linken sein, als Katalysator für Allianzen zwischen wichtigen Segmenten dieser Neuen Mitte (qualifizierte Facharbeiter, Ingeneurinnen, ökologisch sensibilisierte neue Selbstständige, kritische Wissenschaftler) und den tragenden Gruppen des unteren Drittels der Gesellschaft zu wirken, die auf gemeinsamen Interessen gründen. Je besser dies gelingt, umso unglaubwürdiger wird künftig der Rekurs der neuen Mitte auf Margaret Thatchers Standardformel wirken: "Es gibt keine Alternative."
André Brie ist Europa-Abgeordneter der PDS in der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/ Nordisch-Grüne Linke; Klaus Dräger ist Mitarbeiter des Europabüros der PDS.
Teilzeitquote innerhalb der EU 1999
Teilzeitstellen je 100 Beschäftigte | Arbeitslosenquote | ||
(Durchschnitt 1. Halbjahr 1999/ in %) | |||
Frauen | Männer | ||
Niederlande | 67 | 16 | 3,6 |
Großbritannien | 45 | 13 | 6,2 |
Schweden | 41 | 10 | 8 |
Dänemark | 38 | 11 | 4,5 |
Deutschland | 32 | 3 | 10,5 |
Belgien | 29 | 3 | 8,8 |
Frankreich | 29 | 3 | 11,2 |
Österreich | 24 | 2 | 4,9 |
Irland | 21 | 14 | 9,1 |
Luxemburg | 19 | 1 | 2,2 |
Spanien | 15 | 3 | 19 |
Italien | 12 | 3 | 11,7 |
Portugal | 12 | 5 | 6,3 |
Finnland | 12 | 6 | 12,3 |
Griechenland | 8 | 3 | keine Angaben |
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