Jeder Dreck ist wichtig

West-Ost-Transfer Steffen Menschings Roman " Jacobs Leiter"

Dem alten Buchhändler und Antiquar Jacob bleibt vorbehalten, im Gespräch mit dem Autoren dessen eigene Unsicherheiten im Blick auf das Buch der Bücher zu formulieren: "Das Buch wird einmalig, spannend, unterhaltsam, postmodern, klassisch, tragisch, witzig, eine Stopfgans, eine Enzyklopädie, eine Wundertüte." All das und noch ein bisschen mehr ist das neue Buch von Steffen Mensching geworden, dem 1958 in Ostberlin geborenen Autor, Regisseur und Clown: ein Geschichts- und Geschichtenbuch, ein Roman über Bücher, genauer noch: über eine ganze, 4.000 Bände umfassende Bibliothek, auf die der Autor in New York gestoßen ist, die er - nach einigen Zögern - erwirbt und schließlich Richtung Deutschland verschifft. Am Ende des Textes sind die Kisten umständlich und sorgsam verpackt für die Überfahrt und eine neue Heimstatt bereitgestellt und der Autor Mensching gewiss, daraus selbst wiederum ein Buch - einen Roman! - zu machen. -"Ich werde dieses Buch anfangen", lässt Mensching die New Yorker Freunde wissen; den ersten Satz kenne er zwar noch nicht, dafür aber den umso gewichtigeren letzten: "The story is the sense of the history." Und man könnte mit Robert Musil noch hinzufügen: wüsste ich den Sinn, würde ich nicht erzählen.

Mensching hat einen Text geschrieben, konstruiert und collagiert, der die verschiedensten Elemente und Segmente miteinander verknüpft und nebeneinander arrangiert: Da ist zum einen die akribisch-detektivische Recherche nach den ehemaligen Besitzern der Bücher, die er da im New Yorker Antiquariat aufgetrieben hat, etwa jenen Hamburger Juden Max Martin Nathan, dessen Eltern in Auschwitz ermordet worden sind, während er selbst mit seiner Schwester zunächst nach London, später nach New York fliehen kann, um verarmt in einem australischen Altenheim zu sterben. Da sind weiter die vielen Kapitel, die Mensching als Historiker und Spurensucher ausweisen, als jemanden, der die - nahezu verschüttete - Geschichte des New Yorker "Clubs der Communisten" rund um den westfälischen, mit Engels bekannten Arzt Abraham Jacobi Ende der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts erzählt. Da gibt es Hinweise auf einzelne Bände der Bibliothek, notiert Mensching ganze Listen von Titeln, vergisst auch nicht, die Exlibris sowie Widmungen und Datierungen zu erwähnen. Nichts wird ausgelassen, alles für wert befunden: jeder Dreck, "wenn er nur zwischen zwei Buchdeckeln steckt", ruft sich der Autor an einer Stelle einmal zu. Dann aber, hat man den Eindruck, hebt sich bisweilen wieder der Blick und nimmt sich seiner Umgebung an: kurze Prosaminiaturen enthalten messerscharfe Alltagsbeobachtungen aus der fernen, vertrauten wie geheimnisvollen Metropole New Yorks, und eigene Erinnerungen an eine DDR-Kindheit und Jugend Ausgang der sechziger, Anfang der siebziger Jahre blitzen plötzlich unvermittelt auf, ehe die historische Sonde erneut ansetzt und dem Schicksal von Verfolgten und Exilierten nachgespürt wird.

Menschings Text, sein säkulares Buch der Bücher, bleibt bis zum Schluss Erzähltext, der freilich neben durchaus diskursiven Einschüben unterschiedliche narrative Strukturen aufweist und sich - Zufall oder nicht? - einreiht in eine in jüngster Zeit zu notierende Renaissance "neusachlichen" Schreibens, das - versessen aufs historische Detail und genauso hungrig auf Authentizität - mal nüchtern-kühl, dann wieder überaus engagiert-kritisch Lebensläufe und Biographiemuster aufzeichnet. Bücher von Burkhard Spinnen oder Gerhard Henschel wären hier zu nennen. Dann blickt Mensching aus der Ferne so nah noch die "Neue Subjektivität" über die Schulter, wenn sich der Erzähler - klar ist wo - gehen lässt: "Bruce Springsteen, Born in the U.S.A., im Radio. Mein kritischer Apparat bricht zusammen, alle marxistischen Regulative gehen über Bord. Exit 40. Refrainsüchtig brülle ich die heimliche Hymne des Landes, ein einsamer Steppenwolf, Hipnik, Flower-Power-Bauer, Pionier, weißer Siedler, den es in den Westen zieht, immer dem Highway nach. Born in the U.S.A. Einfach weiterfahren, das rechte Bein durchgedrückt. Alles stehen und liegen lassen."

Steffen Mensching: Jacobs Leiter. Roman. Aufbau, Berlin 2003, 426 S., 22 EUR

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