Jeder Erwachsene würde zum Personalrat gehen

Im Gespräch Die Berliner Pädagogin Renate Herranen über Schulkulturen und Schultoiletten, System- und Schuldfragen

FREITAG: Der Mut einiger Lehrer der Rütli-Hauptschule in Berlin-Neukölln, an die Öffentlichkeit zu gehen, hat viele Lehrer angeregt, sich ebenfalls darüber zu äußern, dass auch in ihren Anstalten untragbare Verhältnisse herrschen. Entlädt sich da so etwas wie ein Gefühlsstau?
RENATE HERRANEN: Tatsächlich ist die Rütli-Schule kein Einzelfall. Unser gesamtes Erziehungs- und Ausbildungssystem - angefangen von der Kita bis zur Universität - ist in einer tiefen Krise. Und wir dürfen nicht so tun, als läge die Schuld vorrangig bei den Jugendlichen, den Eltern oder den Lehrern.

Bei wem dann?
Fakt ist, dass dem System durch die von der Politik verordneten Sparmaßnahmen enorme Mittel entzogen wurden. Die Verlängerung der Lehrerarbeitszeit im Land Berlin um zwei Stunden bei gleichem Gehalt seit 2003, die größere Zahl von Kindern, für die ein Lehrer verantwortlich ist, und eine Fülle von neuen Dokumentationspflichten beeinträchtigen die eigentliche Erziehung. Des weiteren wurde ja nicht nur die Lehrmittelfreiheit aufgehoben - wodurch das Portemonnaie vieler Eltern ungeheuer belastet ist -, es wurden zugleich auch die Globalmittel für Lehrmaterial an den Schulen gekürzt. Der neue Rahmenlehrplan sieht wieder ein Fach Naturwissenschaften an Grundschulen vor, doch dafür braucht man besondere Fachräume, die es an den meisten Schulen nicht gibt. Ich sage immer: wenn man skandinavische Verhältnisse im Bildungswesen will, muss man auch das Geld und Personal zur Verfügung stellen, die dort geboten werden.

Zu den verhängnisvollsten Folgen der Kürzungen gehört es im Übrigen, dass Schulen nicht mehr sauber gehalten werden. Die Kinder müssen auf Toiletten gehen, die sie morgens verdreckt vorfinden. Wenn eine Schule nicht sauber ist, wird dem, der dort unterrichtet wird, auch nicht vermittelt, dass er willkommen ist. Im Gegenteil, sein Selbstwertgefühl wird verletzt. Jeder Erwachsene würde in seinem Betrieb zum Personalrat gehen. Den haben Schüler nicht. Wer schützt sie eigentlich?

Was bedeutet das alles für die Kinder mit - wie es heißt - Migrationshintergrund?
Wir dürfen auf keinen Fall übersehen, dass die Situation für alle Kinder und Jugendlichen aus armen Verhältnissen dramatisch geworden ist. Eltern, die mit endlosen Problemen ringen, nervös und deprimiert sind, können kaum gute Erzieher sein. Bei Kindern mit Migrationshintergrund ist das oft noch schwieriger. Dabei kann es allerdings ein Unterschied sein, ob das Kind aus einer türkischen Einwanderfamilie kommt, die mit unbegrenzter Aufenthaltsgenehmigung seit mehreren Generationen hier lebt, oder ob die Familie aus Albanien oder Palästina kommt und nur geduldet wird.

Ein Phänomen wie die Perspektivlosigkeit der Eltern kann die Schule freilich nicht ändern, aber sie kann die Auswirkungen auf die Kinder mildern. Allerdings merken die Kinder ab dem dritten oder vierten Schuljahr ziemlich genau, ob sie selbst eine Perspektive haben oder nicht.

Berlins Schulsenator Böger sagt, dass die deutsche Gesellschaft die Kinder mit Migrationhintergrund als die Ihren annehmen und mehr Mittel für das System in Aussicht stellen muss.
Sicher, nur darf es bei diesem Lippenbekenntnis nicht bleiben. Dass die Hauptschulen in Berlin jetzt Sozialarbeiter bekommen, genügt nicht. Sie gehören an alle Schulen. In Finnland sind Schulpsychologen die Regel. Viele Pädagogen sind enttäuscht, dass die Hauptschule erhalten bleiben soll. Es darf keine Schulen und keine Klassen geben, in denen alle, die im System gescheitert sind, konzentriert werden - man schafft so Ballungsräume der Perspektivlosigkeit.

Scheitert nach Ihrem Eindruck Integration vor allem an mangelnden Deutschkenntnissen, wie behauptet wird?
Kinder lernen Sprache eigentlich schnell und gut in kleinen Gruppen, in denen sie sich wohlfühlen. Es gibt durchaus vorzügliche wissenschaftliche Methoden, die Pädagogen als Sprachvermittler des Deutschen beherrschen müssen. Dass seit Anfang 2006 ein Sprachlerntagebuch in den Kitas für jedes Kind zu führen ist, halte ich für sehr gut. Leider verfügen die meisten Kollegen nicht über die nötige Qualifizierung als Sprachmittler - weder in den Kitas noch an den Schulen. Genau hier wurde bei der Lehrerausbildung der Rotstift angesetzt. Es fehlen Fortbildungsangebote für die, die bereits in der Praxis sind. Der erste Schritt, der in dieser Hinsicht getan werden muss, sollte zu einer verbesserten Personalausstattung führen.

Welche Rolle spielen kulturelle Differenzen und religiöse Gebote beim Schulversagen?
Es gibt Schüler aus allen Religionen und Kulturen, die sehr gute Lernergebnisse haben. Ausschlaggebend sind auch hier der soziale und Bildungsstatus der Eltern. Wollen wir allen Kindern gute Entwicklungsbedingungen bieten, ist es dringend erforderlich, dass sich auch kulturell etwas ändert. Die Politiker, die sich aufregen, dass viele muslimische Jugendliche das Wochenende in einer Hinterhofmoschee und vor dem Fernseher verbringen, sind dieselben, die in den vergangenen Jahren Kulturzentren sowie Schul- und Jugendbibliotheken nicht mehr finanzieren wollten.

Aber wie sollen Ihrer Meinung nach notwendige Änderungen finanziert werden?
Zunächst sollten wir uns klarmachen, dass die Folgekosten dieser Sparpolitik wesentlich höher sind als das gesparte Geld. Jugendhilfe, Therapieplätze, Jugendknast, Sozialhilfe - das alles kostet doch Unsummen. Wenn wir zum Beispiel die Regelklassengröße auf 20 Kinder senken, hätten die Lehrer wieder Zeit, Kinder und Jugendliche individuell zu fördern. Dafür würde Berlin etwa 1.000 Lehrer mehr benötigen, was zusammen mit der Rückkehr zur Lernmittelfreiheit 70 Millionen Euro kosten würde und ein sehr großer, aber nur ein erster Schritt sein könnte. Die genannte Summe wäre verfügbar, würde in Berlin die Gewerbesteuer auf Potsdamer Niveau gehoben. Die Rüstungsausgaben in Deutschland sind heute mit 24 Milliarden Euro fast zweieinhalb Mal höher als die Bundesmittel für Bildung und Forschung. Tun wir doch nicht so, als gäbe es kein Geld in diesem Land.

Das Gespräch führte Sabine Kebir

Renate Herranen ist stellvertretende Vorsitzende der Fachgruppe Schule und Sozialarbeit in der GEW Berlin und Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft Bildung der WASG/Berlin.


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