Jeder für sich

Freiheit Der Mord an der russisch-amerikanischen Menschenrechtsaktivistin Anna Politkowskaja versetzte alle Welt in Aufruhr. Ein Jahrzehnt später ist davon nichts mehr übrig
Ausgabe 41/2016
Kritisierte den Kreml immer wieder, vor allem für seine Tschetschenien-Politik
Kritisierte den Kreml immer wieder, vor allem für seine Tschetschenien-Politik

Foto: Natalia Kolesnikova/AFP/Getty Images

Tausende kamen damals zu ihrer Beerdigung. Wladimir Putin musste sich öffentlich erklären. Der Mord an der Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Anna Politkowskaja versetzte alle Welt – auch Russland – in Aufruhr. Doch heute, genau ein Jahrzehnt später, ist davon nichts mehr übrig. In Russland gibt es derzeit Wichtigeres, als über den „Fall Politkowskaja“, das Zeitunglesen und die (Presse-)Freiheit nachzudenken: Es will ge- und überlebt werden.

Es ist ein grauer Herbstfreitag, als in Moskau die internationale Presse vor dem Redaktionsgebäude der Nowaja Gaseta aufläuft, wo Anna Politkowskaja bis zu ihrem Tod 2006 arbeitete. Ehemalige Kollegen halten Reden. Davon abgesehen ist kaum jemand zur Gedenkveranstaltung gekommen. Ein Grüppchen älterer Frauen sitzt etwas abseits. Die Babuschki kommen jedes Jahr hierher. Anfangs legten sie Blumen auch vor dem Wohnblock nieder, wo Politkowskaja mit vier Schüssen ermordet wurde. Doch seit sich die Anwohner beschwerten, meiden sie den Ort. „Sie hat uns die Wahrheit erzählt“, sagt eine der Damen, sie heißt Ludmila, „deshalb musste sie sterben.“ Dann beginnt sie mit Geschichten von Wahlbetrug und vom harten Leben unter den Sanktionen: „Jeder sorgt sich nur um sich.“

Vor zwei Jahren reagierte Russland auf die europäischen Sanktionen mit klarer Kante. Produkte wie Käse, Fleisch oder Fisch durften nicht mehr importiert werden. Je stärker ein Käse stinkt, desto besser eignet er sich hier deshalb nun als Gastgeschenk. Die Waren, die es noch ins Land schaffen, werden von fliegenden Händlern über die finnische Grenze geschmuggelt oder mit einem neuen Etikett in Weißrussland versehen. Das Riesenreich steckt in einer Krise. Und die Bevölkerung? Beißt die Zähne zusammen. Die Geschichten, die man auf den Straßen und in Lokalen hört, ähneln sich: Der eine hat wegen der Einfuhrverbote seinen Job verloren, die andere bekommt ihr Gehalt erst Monate später ausgezahlt. Verhungern muss freilich niemand. So wird weitergemacht, als wäre nichts. Man bestellt seinen Garten und produziert den Käse selbst – und viele sind dabei nicht weniger stolz auf ihr Land.

Am Tag nach der Gedenkveranstaltung verweilen einige Passanten kurz vor der Gedenktafel für Anna Politkowskaja, lesen die Inschrift, machen Bilder von den Blumen. Auch ein Mann namens Wladimir und seine Frau kommen vorbei, zufällig. „Schon immer waren alle gegen uns“, sagen sie, „mit den Sanktionen will Europa uns wütend machen. Aber wir haben schon schlimmere Zeiten durchlebt.“ Forderungen nach Pressefreiheit sind für die beiden weit weg. „Wenn wir uns nicht um uns selbst kümmern, dann tut’s niemand“, erklärt der Mann. „Wir sind müde von der Politik.“ Sie dachten, sie hätten die Zeiten des Komsomol, des Kriegs und der Rechtlosigkeit hinter sich gelassen. Doch an der Macht seien immer noch die Gleichen, sagt das Paar.

Auch bei den Jungen herrscht politische Apathie, was sich etwa an der niedrigen Beteiligung bei den jüngsten Duma-Wahlen zeigte. Freiheit wird im heutigen Russland vor allem im Privaten gelebt. Es ist, wie die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch einmal schrieb: „Freiheit mit Leiden oder Glück ohne Freiheit“. Beides geht in Russland noch immer nicht Hand in Hand. Es ist eine Entweder-oder-Entscheidung – und der Kampf für Freiheit mit hohem Risiko verknüpft. Kein Wunder also, dass nicht viele dem Beispiel der mutigen Anna Politkowskaja folgen wollen.

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden