Sowohl George Bush als auch Al Gore befürworten die Todesstrafe, weil sie eine abschreckende Wirkung habe. Während der letzten Fernsehdebatte zwischen beiden versuchte der republikanische Bewerber allerdings den Eindruck zu zerstreuen, er sei stolz auf die zahlreichen Hinrichtungen in Texas. Als Gouverneur müsse er harte Entscheidungen treffen, zu denen er stehe.
Die texanische Hitze ist bei der hohen Luftfeuchtigkeit fast unerträglich - ich fahre mit einem Mietwagen auf dem Highway 45 nordwärts in Richtung Dallas. Die flache, baumlose Landschaft wirkt öde, anämisch, grau. Einzige Farbtupfer entlang der Autobahn sind Reklametafeln der Fast-Food-Konzerne und Bibelsprüche der Kirchen. Und immer wieder: »God 1-st!«. Mein Ziel ist Huntsville, das Staatsgefängnis von Texas, genauer »Ellis I« - der berühmt-berüchtigte Todestrakt.
Nach mehreren Kontrollen und dem Passieren von Kontaktschleusen werde ich in den Besucherraum (Reisepass und Bargeld sind vorher eingezogen worden) geführt. 45 Gitterkäfige drängen sich wie miteinander vernäht hoch und eng auf einem schmutzig-grauen Fußboden. Für Blickkontakte gibt es eine kleine Plexiglasscheibe in Brusthöhe. Ich sitze auf einem Stuhl vor dem Käfig mit der Nummer 23. Nach Anweisung des Aufsichtspersonals liegen meine Hände flach auf den Oberschenkeln - ab sofort dürfen sie keine Bewegungen nach links oder rechts mehr riskieren.
Ich warte auf einen Todeskandidaten, den ich noch nie gesehen habe: auf den Sportler und feinsinnigen Poeten Napoleon Beazley. Ein Afro-Amerikaner, 22 Jahre jung, die letzten vier hat er in Huntsville verbracht. Seit drei Jahren stehen wir in Briefkontakt. Mit 15, 16 Jahren - so schrieb er mir - seien die Schule, vor allem der Sport sein Lebensinhalt gewesen. Man habe ihn mit Preisen und Pokalen des Staates Texas ausgezeichnet. Und er sei nie straffällig geworden.
Dann aber eines Tages - Napoleon ist gerade 17 - lernt er zwei Kriminelle kennen, die ihm eine »Mutprobe« abverlangen, die Beteiligung an einem nächtlichen Autoüberfall - mit tödlichem Ausgang für den Betroffenen. Es handelt sich um den Vater eines Bundesrichters.
Die beiden Kriminellen sagen im Prozess: »Der war's!« - Napoleon Beazley wird zum Tode verurteilt. Seine Täterschaft konnte bis heute nicht eindeutig nachgewiesen werden. Der Pflichtverteidiger hatte kaum Erfahrung mit Mandanten, die wegen derartiger Kapitalverbrechen angeklagt waren. Er schien außerdem nicht sonderlich interessiert an diesem »Fall«, wohl auch wegen des in Aussicht stehenden geringen Honorars eines vom Staat bestellten Anwalts. Das Geld für einen versierten Rechtsbeistand hatten Napoleons Eltern nicht.
Ob schuldig oder nicht: nach der UN-Charta, nach den Erklärungen der UN-Menschenrechtskommission, selbst nach amerikanischen »human rights« ist die Todesstrafe geächtet, unmenschlich und staatsunwürdig. Und schon gar nicht darf jemand zum Tode verurteilt werden, wenn er zur Tatzeit noch keine 18 Jahre alt war.
Es ist acht Uhr und sieben Minuten: Napoleon wird in Fußketten in den Gitterkäfig geführt. Das Zugangstür wird verschlossen. Der Häftling muss sich umdrehen und von außen - durch einen Schlitz - werden die Handschellen gelöst. Napoleon: ein athletischer Bursche, mit Oberlippenbärtchen und einer angenehm freundlichen, keinesfalls resignativen Ausstrahlung, ohne dieses aufgesetzte US-keep-smiling. Das tut gut, für den ersten Augenblick, da man vor innerer Spannung nicht weiß, wie das Gespräch am klügsten begonnen werden soll ...
»Ehe ich es vergesse«, meint Napoleon nach unserer Begrüßung, »dir und all den anderen möchte ich nochmals herzlich danken, dafür, dass wir die erste Runde am 27. Mai gewonnen haben - keine Hinrichtung. Und ich lebe noch! Deine Spende und die Aktionen haben viel geholfen, mein Freund!«
Wir unterhalten uns über Texas, philosophieren über Einsamkeit, über Trauer und über Solidarität, diskutieren das Resultat seiner Football-Mannschaft, der Dallas Cowboys, die gegen die Seattle Seahawks gespielt haben, und reden über die Boxszene. Napoleon freut sich, dass er in den nächsten Tagen meinen »Bestseller«, ein kleines satirisches Büchlein über das Boxen bekommen kann (sein Name steht im Vorwort). Er wird es über seine Eltern erhalten, denn heute durfte ich nichts mitnehmen in den Todestrakt. Napoleon will wissen, wie ich Poeme schreibe. Und ich erzähle ihm von den Schwierigkeiten bei der Herausgabe einer Publikation. Die Atmosphäre entspannt sich - und das engmaschige Gitter, das uns trennt, jetzt stört es nicht mehr...
Nach zwei Stunden beantrage ich nochmals drei Stunden Sprechzeit, denn die zulässige Dauer eines Besuches richtet sich nach der Entfernung, die ein Besucher auf dem Weg nach Huntsville zurückgelegt hat - ich war mehr als 750 Meilen unterwegs.
Napoleon spricht von seinen »wunderbaren Eltern«, die stets zu ihm gehalten haben, aber ihn nicht einmal in den vier Jahren, die er im Zuchthaus verbracht hat, berühren durften.
Hier im Besucherraum ist es einigermaßen klimatisiert. »In der Zelle lebst du mit einer unerträglichen Hitze. Das ist nur auszuhalten, wenn ich mein Hemd ausziehe, es unter den Wasserhahn halte und sofort tropfnass anziehe, nur so kann man ...« Wer Texas kennt, weiß: ein Büro, eine Wohnung oder Werkstatt ohne Klimaanlage - das ist undenkbar, nicht auszuhalten. Selbst Hundezwinger und Pferdeställe werden mit dem entsprechenden Equipment ausgestattet. »Übrigens, dein Kontakt zu George Foreman (dem Prediger und einstigen Box-Weltmeister - A. F.) kann uns vielleicht auch weiterhelfen, sagen meine Eltern ...«
Hier bricht er mitten im Satz ab und zeigt nach rechts. Bill - im Käfig nebenan - betet mit seiner Mutter und seiner Verlobten. Bill ist 25 Jahre jung, erfahre ich später, und soll in drei Tagen hingerichtet werden. Er hat keine Chance mehr. Auch Napoleon betet - leise, sehr leise. Er weiß, dass er einer der Nächsten sein kann.
Ich schweige und spüre die Verzweiflung so hautnah, als sei ich selbst betroffen. »Hilf uns, my God, und verlass uns nicht. Amen«, beten beide gemeinsam, Bill und Napoleon.
Wieder Schweigen - beklemmende Stille ringsum, die nur vom Zuschlagen einer Zellentür durchbrochen wird. Napoleon hebt seinen Kopf, faltet seine Hände und hält sie vors Gesicht. Die kurzen Bewegungen seines Kopfes und Oberkörpers lassen eine tiefe Erschütterung ahnen. Diese Ohnmacht ist so bedrückend wie das Schweigen, das ein Wartender statt einer erhofften Antwort ertragen muss. Napoleon sieht mich an - »Sorry«. Ich nicke nur und blicke in die Augen eines Todeshäftlings.
Jeder in diesem Trakt glaubt, dass er davon kommen wird. In Wirklichkeit wurde in diesem Jahr noch keiner durch Gouverneur Bush begnadigt. Hinrichtungen sichern Wählerstimmen, Karrieren, Positionen - Hinrichtungen sind nicht zuletzt politische Entscheidungen.
»Napoleon, du kennst so gut wie ich die weltweiten Proteste gegen die Todesstrafe. Und nun lese ich, dass der fromme Bill Clinton dafür ist, die Todesstrafe auf mehr Delikte als bisher anzuwenden ... Warum sind nur so wenige Stühle vor den Gitterkäfigen besetzt. Ist das immer so?«
«Ich weiß es nicht. Wenn ich in der Zelle bin, sehe und erfahre ich ja nichts. Ich weiß nur, dass manche Häftlinge gar keinen Besuch erhalten. Sie kommen oft aus zerrütteten Familien, in denen Alkohol und Drogen das miese Leben und die miese Wohnung verdrängen sollen ...«
»Was hat der Schließer gerade gemurmelt? Ich konnte es nicht verstehen.«
»Leider, in zehn Minuten ist die Besuchszeit zu Ende ...«
»Napoleon, ich komme ganz sicher wieder, aber wann, das kann ich jetzt noch nicht sagen. Aber, wir sehen uns wieder!«
»Gut, ich freue ich mich darauf... «
Ich erzähle ihm noch, dass ich am Nachmittag zu seinen Eltern fahren und seinen Bruder kennen lernen will, einen aktiven Sportler. Und wir sprechen zum Schluss darüber, wie wir den nächste Hinrichtungstermin, der nicht mehr in diesem Jahr angesetzt werden dürfte, verhindern können. Einen Kontakt zu Gouverneur George Bush werde ich nach Rücksprache mit Napoleons neuem Anwalt verstärken.
»Die Geldspende, die ich mitgebracht habe, erhalten deine Eltern.«
»Ich schicke dir nächste Woche alle Gedichte, die ich hier geschrieben habe, einige hast du ja schon ...«
Schritte. Der Schließer kommt. Am Käfiggitter klickt es. »Good Bye, Napoleon.«
Napoleon werden Handschellen angelegt, er wird abgeführt, ohne die Möglichkeit zu haben, sich noch einmal umzudrehen.
Ich fahre in meinem Mietwagen durch ein großes Farmgebiet in Richtung Dallas zu Napoleons Eltern, vorbei an einer riesigen Schweine-Mastanstalt, die den Namen »Ellis« trägt.
Wenn ich die Exekution nicht verhindern kann, werde ich Napoleon auf seinem Weg zum »death house« - der Hinrichtungsstätte - begleiten, zusammen mit seinen Eltern, seinem jüngeren Bruder, seiner Schwester. Im »death house« werde ich ihm zum ersten - und letzten - Mal die Hand geben, und seine Eltern dürfen ihn nach über vier Jahren wieder - noch einmal - berühren. Die Transportfirma, die Napoleon zum Schafott fährt und dies für eine Ehre hält, wird dafür 3.500 bis 4.000 Dollar an den Staat zahlen und diese »Ehre« dann gnadenlos vermarkten ...
In der »Endstation des Lebens« - der Hinrichtungsstätte im »death house« - wurden 1936 die berühmten Bonnie (Parker) and Clyde (Barrow) auf dem elektrischen Stuhl regelrecht verbrannt. Napoleon wird »humaner« getötet. Für ihn ist die Giftspritze reserviert.
Unser Autor lebt als Schriftsteller in Deutschland, u. a. veröffentlichte er Im Todestrakt von Texas.
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