Es war Anfang der Neunziger, als Ruud Lubbers - im ganzen Land nicht nur als Premier, sondern auch als »Vater der Nation« verehrt - ein Machtwort sprach: Die Niederlande seien ein krankes Land, erklärte der Christdemokrat und verwies auf die leeren Kassen der Versicherungen. Damals strebte die Arbeitslosigkeit einem Rekordniveau entgegen: Gerade einmal ein Drittel der 15 Millionen Niederländer ging einer Erwerbstätigkeit nach, fast eine Million war angesichts der Stellenknappheit sozial gut abgesichert invalidisiert, Hunderttausende hatten sich für eine Frühverrentung entschieden - das soziale Netz, das mit den Gewinnen aus Erdgasverkäufen in den fünfziger Jahren mühsam aufgebaut wurde, drohte zu zerreißen.
Unter dem Motto »Werk, werk, werk...« (Arbeit, Arbeit, Arbeit) trat 1994 die inzwischen wiedergewählte sozialliberale Koalition an, um durch eine Reihe von Bündnissen die Niederländer - allen voran Langzeitarbeitslose, Frauen und Sozialhilfeempfänger - wieder in Arbeit zu bringen.
Anders als in Deutschland klappte in dem Polderland, das traditionell auf Konsens statt Konfrontation setzt, die Kooperation zwischen Tarifpartnern und Staat: Die Gewerkschaften erklärten sich unter der Bedingung zur Lohnzurückhaltung bereit, daß die Unternehmen gespartes Geld in Kinderbetreuung, Schulungen und neue Stellen investierten. Der Staat seinerseits senkte die Steuern, um den Lohnabbau aufzufangen, durchforstete die Sozialversicherung und lancierte massive Kampagnen für mehr Teilzeitarbeit.
Letzteres mit erkennbarem Erfolg: Im Juni 1999 sind in den Niederlanden 67 Prozent der Frauen und 20 Prozent der Männer nicht mehr vollzeiterwerbstätig. Dabei bleibt ein Teilzeit-Beschäftigter den Vollzeitkräften rechtlich völlig gleichgestellt. Außerdem darf ein Arbeitgeber die Umwandlung einer Stelle (von Voll- auf Teilzeit) nur dann ablehnen, wenn er dafür gute Gründe vorweisen kann. Auch die Wochenarbeitszeit wurde drastisch reduziert und liegt jetzt durchschnittlich bei 32 Stunden.
Rein statistisch kann sich der Ertrag des »Poldermodells« sehen lassen: Die Frauenerwerbsquote stieg von 35 auf 55 Prozent. Insgesamt wurden von 1994 bis 1998 über 450.000 Arbeitsplätze geschaffen - allein 1997 waren es 213.000, darunter über ein Drittel als Teilzeitstellen. Die Arbeitslosenquote sank so 1997 erstmals unter die Fünf-Prozent-Marke, und das Wirtschaftswachstum lag im gleichen Jahr bei 3,3; 1998 bei fast vier Prozent.
Auch für Jugendliche bietet sich in den Niederlanden ein im Vergleich zu Deutschland geradezu rosiges Bild: Nach Berechnungen des Zentralen Planungsbüros (CPB) in Den Haag dürften im Jahre 2002 etwa 90 Prozent der Schulabgänger eine gute bis sehr gute Aussicht auf »angemessene Arbeit« haben, noch 1992 war die Lage umgekehrt: Damals gab es noch für 78 Prozent der Jugendlichen gar keine oder nur geringe Chancen, einen passenden Job zu finden. - Nichts destotrotz regt sich Unmut.
Es ist nicht zu übersehen, daß der Abbau der Erwerbslosigkeit fast ausschließlich durch Teilzeit-Beschäftigungen bewirkt wurde, die viele nicht einmal aus der Sozialhilfeberechtigung herausholen. »Wir müssen weg von dieser Politik«, meint freimütig Rick van der Ploeg von der sozialdemokratischen Partei der Arbeit (PvdA), »auf Dauer können wir sonst unser Sozialsystem nicht erhalten.« Auch in privaten Haushaltskassen herrscht Mangel: Jeder dritte Niederländer würde laut einer Umfrage gern wieder länger arbeiten, um sein Einkommen aufzubessern. Das Lohnniveau ist inzwischen 20 Prozent niedriger als in Deutschland. Laut CPB lag 1995 die Zahl der Haushalte mit einem »geringen Jahreseinkommen« von etwa 18.000 Gulden (ca. 13.500 Mark) für Alleinstehende bei 15,0 Prozent - drei Jahre später schon bei 16,5 Prozent.
Hinzu kommt das Problem der sogenannten »Flexwerker«: Arbeitskräfte, die bei Zeitarbeitsfirmen oder firmeneigenen »Pools« angestellt sind und je nach Bedarf ein- und umgesetzt werden. Nach einer Expertise der Rotterdamer Erasmus-Universität bevorzugen inzwischen 80 Prozent der Unternehmen »Flexwerker«, um Lohnkosten zu drücken. Aus der Studie geht nicht zuletzt hervor, daß »Flexwerker« als Arbeitskräfte zweiter Klasse angesehen und behandelt werden. Auch das sogenannte »Flexwet«, ein Gesetz, das zu Jahresbeginn in Kraft trat, um »Flexwerkern« mehr Rechte einzuräumen und eine um sich greifende Scheinselbständigkeit einzudämmen, wird nach jüngsten Erkenntnissen von Arbeitgebern nur allzu oft ignoriert. Und: Viele »Flexwerker« werden von Arbeits- und Sozialämtern gegen ihren Willen auf den Markt geschickt, ansonsten droht Leistungsentzug. So leicht es früher war, einen Platz im sozialen Netz zu ergattern und öffentliche Hilfe zu bekommen, so schwierig ist es heute.
Vielfach wurde staatliche Vorsorge auf bloße Existenzsicherung zurückgeführt, ein Beispiel ist die staatliche Hinterbliebenenversicherung, die 1997 auf Kinder unter 18 und Ehepartner beschränkt wurde, die bei Einführung des Gesetzes bereits älter als 47 Jahre waren. Invalidenrentner sahen sich drastisch gekürzten Bezügen ausgesetzt. Wer als nur »teilweise arbeitsunfähig« gilt, muß sich jährlich einer erneuten ärztlichen Prüfung unterziehen.
Vor allem jedoch führt das niedrige Lohnniveau zu Unmut: Erstmals seit Jahren erklärte Mitte des Monats ein Vorstandsmitglied des Gewerkschaftsbundes FNV, die Zeiten der Mäßigung müßten ein Ende finden, 1999 sollten Steigerungen von 3,5 Prozent möglich sein. Auch führende Ökonomen des Landes argumentieren derweil, dauerhafter Lohnverzicht schade wegen des damit verbundenen Kaufkraftverlustes der Konjunktur. Vorerst sind sie einsame Rufer in der Wüste: Denn das »Poldermodell« ist nach wie vor ein allseits bewunderter Exportschlager des Landes.
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