Jeder stirbt für sich allein

Frost Kältetote sind keine Einzelfälle und auch kein unabänderliches Schicksal: Städte und Kirchen sollten warme Räume öffnen, und auch Ikea ist gefordert

Über dreihundert Tote in Europa in den vergangenen Tagen, alleine die Ukraine meldet 2.000 Behandlungsbedürftige. Ein Terroranschlag? Ein Kreuzfahrtschiff gesunken? Nein, nur die Kälte war schuld! Und weil manche Toten gleicher sind als andere, reicht es in den Fernseh-Nachrichten für die weniger Gleichen gerade mal für die kurze Erwähnung vor dem Wetterbericht.

Zehntausende Obdachlose gibt es in Moskau, der Stadt mit der weltweit höchsten Millionärs- und Milliardärs-Quote. Gut zehntausend sollen es in Berlin sein, darunter viele aus Polen und Osteuropa, die in der deutschen Hauptstadt mal ein besseres Auskommen suchten. Zum Alltag gehören sie dazu, zum ach so wilden, bunten Berlin mit seinen sozialen Widersprüchen, das arm, aber gerade deshalb so sexy sein will. Dumm nur, dass Armut nicht nur bei normalen Temperaturen das „Krankheits- und Sterblichkeitsrisiko“ erhöht, sondern dass reiner Geldmangel bei Temperaturen unter Null zum körperlichen Überlebenskampf und zum mörderischen Unterfangen wird. So verbrannte am Berliner Gesundbrunnen am Wochenende ein Wohnungsloser, weil das wärmende Feuer in seinem Behelf außer Kontrolle geriet.

Keine wärmende Erholung

Die Ausgegrenzten sollen nicht vergessen werden, das sagen sie alle, von ihren warmen Büros aus - Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit im Wahlkampf, die Kirchenoberen zu Weihnachten. Doch die letzten Tage legen den Schluss nahe: Ob ein Obdachloser mehr oder weniger lebt oder stirbt, das interessiert selbst im Spenden-Weltmeister-Land Deutschland kaum jemanden.

Gerne verweist man gönnerisch auf Notunterkünfte, die doch bereitstünden – in deren „Mehr-Bett-Zimmern“ aber bekanntermaßen derart unzumutbare Zustände herrschen, dass der „Normal-Bürger“ nicht einmal eine Minute dort gastieren möchte. Gerne erwähnt man, man halte für den Notfall zwei Berliner U-Bahnhöfe nächtens geöffnet – als ob drei Stunden Schlaf zwischen letztem und erstem Zug irgend etwas mit wärmender Erholung zu tun hätten.

Morde an Obdachlosen durch Neonazis und andere Verirrte gehören heute zur deutschen Normalität. Für Lichterketten reicht die öffentliche Empörung nicht mehr, aber meist werden sie wenigstens zur Kenntnis genommen – im Gegensatz zur täglichen Lebensbedrohung durch Armut für Hunderttausende in Europa. Die im Dunkeln sieht man nicht.

Nicht die niedrigen Temperaturen sind es, die töten. Es sind die Verhältnisse. Denn eine Änderung der Situation wäre nicht nur in Berlin innerhalb von Stunden möglich. In der Hauptstadt gibt es Dutzende von großen, leerstehenden Gebäuden, die dem Berliner Liegenschaftsfonds gehören, die beheizbar wären und menschenwürdigen Raum böten. Ganz zu schweigen von den Winterferien, die in den meisten Bundesländern im Februar noch für leere, nutzbare Schulen sorgen. Unternehmen, die gerne mit ihrem sozialem Image werben wie Ikea, könnten richtige Betten bereitstellen, und nicht nur löchrige Matratzen, wie sie zumeist in den Notunterkünften zu finden sind.

"Hell wie der Mittag"

Der Berliner Senat muss entscheiden, wie viel ihm Menschenleben wert sind – anscheinend aber hat er für die Ärmsten der Armen nicht mal „peanuts“ übrig. Stattdessen rufen Politiker und Kirchen lieber aufmerksame Bürger dazu auf, den „Kältebus“ der Stadtmission zu alarmieren, falls sie Menschen in Not entdeckten. Besonders zynisch: Den polnischen Obdachlosen will Berlin kein warmes Bett gewähren – soviel Gastfreundschaft könnte sich schließlich rumsprechen bis zu den Wohnungslosen unter den Brücken an der Moskva.

Vielleicht sollten sich Politik und Kirchen – die sich über Caritas und Diakonie ja bereits engagieren – neu besinnen auf die vielbeschworene abendländische Tradition der Bibel, „an die Hungrigen Dein Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen". Öffnet Kirchen und öffentliche Gebäude! Wenn es nicht getan wird, geht das Sterben weiter. Diese Nacht – und im nächsten Winter.

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