Jeder Tag ist Dienstag

MAGISCHER REALISMUS David Almond liebt das Mystische und das Geheimnisvolle

Erin und ihre Freunde Januar und Maus reißen ständig aus dem Kinderheim aus. Dort bemüht man sich zwar redlich, den verlassenen Kindern ein Zuhause zu erschaffen, doch Zuneigung und Verständnis - nicht zuletzt für ihren Freiheitsdrang - suchen sie vergebens. Gemeinsam gehen die drei mit einem selbst gezimmerten Floß auf große Fahrt den Fluss hinunter. Doch bereits in Sichtweite des Kinderheims stranden sie in einem stillgelegten Industriegebiet im schwarzen Schlick. Der Sumpf droht sie in die Tiefe zu ziehen, da streckt sich ihnen eine zarte Mädchenhand mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern entgegen. Die elfenhafte Erscheinung mit dem strahlenden Lächeln und dem außerordentlich merkwürdigen Vokabular hält die drei Schiffbrüchigen für ihre Geschwister, schließlich hat ihr "Grampa", ein alter Hausmeister, sie auch einst aus dem Schlamm ausgegraben und ihr den Namen Heaven Eyes gegeben.

Über diesem seltsamen Paar, das nicht von dieser Welt zu sein scheint, liegt ein großes Geheimnis. Der Alte gräbt im Schlick nach Schätzen und führt in der Abgeschiedenheit der verlassenen Lagerhallen stoisch Buch über die Ereignisse des Tages. Dabei scheint die Zeit keine Rolle zu spielen: Jeder Tag ist für ihn ein Dienstag. "Dienstag. Entdeckungen, mehrere. Ein Hund, schwarz, tot. Ein großer Oberschenkelknochen. Schmuck, keiner, Reichtümer, keine. Schatz, keiner. Rätsel, eins." Erin fühlt sich zu Heaven Eyes hingezogen, deren rätselhafte "Geburt aus dem Schlamm" sie verstört. "Mutter", das wichtigste Wort in Erins Leben, hat für Heaven Eyes keine Bedeutung. Mit der Erforschung ihres gemeinsamen Ursprungs - Zeugung, Reifung im Mutterleib, Geburt - wird ein festes Band zwischen Erin und der rätselhaften Heaven Eyes geschmiedet. Als Grampa eines Nachts den "Heiligen" ausgräbt, eine Leiche, die durch jahrelange Lagerung im Schlamm konserviert wurde, geraten die Dinge außer Kontrolle und der magische Schleier, der die Wahrheit lange bedeckt hat, beginnt sich zu lüften ...

Wer ein Buch von David Almond zur Hand nimmt, darf keinen knallharten Realismus erwarten. Der englische Erfolgsautor liebt das Mystisch-Geheimnisvolle und versetzt seine Protagonisten in Welten, die jenseits unserer Alltagserfahrung liegen. Dabei konfrontiert er seine Charaktere stets mit der Schöpfung und ihrem Gegenpol - dem Tod. Wie die anderen Romane Almonds entzieht sich auch Eine Ecke vom Paradies jeglicher Kategorisierung. Der magische Realismus seiner Bücher erinnert zum einen an die literarische Tradition Mittel- und Südamerikas, zum anderen an die "Anderswelten" der keltischen Sage. Die Stimmung allerdings ist durch und durch nordeuropäisch. Vielleicht liegt hierin gerade der Reiz der Erzählung: In einer düsteren, von Elend und Schmutz bestimmten Landschaft, in der sich einsame und verzweifelte Kinder behaupten müssen, entwickelt Almond eine lichtdurchflutete Mär von Hoffnung und Verlangen. Der Roman verdeutlicht subtil und überzeugend die Notwendigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen. Handlung und Sprache ergänzen sich zu einem Geflecht voller Fragen und Rätsel, in dem die Figuren die Grenzen ihrer eigenen Fantasie kennen lernen und gleichzeitig die unbegrenzten Möglichkeiten des Glaubens und der Liebe entdecken.

David Almond: Eine Ecke vom Paradies. Aus dem Englischen von Mechtild Testroet, Verlag Ravensburger, Ravensburg 2001, 190 S., 24,80 DM (ab 12)

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