Flüstern. In einer Welt, in der selbst die Bilder schreien, kann Poesie etwas sehr Mächtiges. Sie kann flüstern. Lehrern, die ihre Klasse zum ersten Mal als unkontrollierbar erfahren, wird geraten, sich flüsternd vor sie zu stellen. Die Schüler werden irritiert zuhören. Sie tun es nur einmal, aber sie werden es tun. Diese Chance kann und muss dann genutzt werden. Im Flüstern der Dichtung liegt ein Raunen, das sich aus den Echos vorangegangener Dichterwerke speist, liegt eine Drohung, die sich aus dem Unberechenbaren der Gegenwart dichterischer Sprache erhebt und eine Verführung, die in die Zukunft führen kann. Gedichte leben davon, dass ihre Zeilen von Faszinierten gesprochen, weitergetragen, geliebt und gesungen werden. Ich werde nicht müde, davon zu berichten, dass Lyrik mir das Leben gerettet hat. Mehr als einmal. In einer Situation absoluter, lebensbedrohender Panik, in schmerzlicher Einsamkeit waren es Zeilen von Heinrich Heine und Else Lasker-Schüler, die ich mir vorsagte und die mich beruhigten und trugen. Der Rhythmus der Sprache gab meinem Herzschlag seine Stetigkeit zurück, beruhigte mich. In jedem Alltag kann sie wirken, die „Poesiepille“, und in Ausnahmesituationen umso mehr: Die Lektüre der Berichte und Tagebücher von KZ-Überlebenden, Häftlingen in Gulags, in Gletscherspalten Eingeschlossenen erschließt uns immer wieder, dass es Trost und Vitalität in Texten gibt, die man sich ins Herz eingeschrieben, die man auf die Lippen genommen hat – auch, um sie mit anderen zu teilen.
Ein Gedicht liest man, um sich zu bereichern, eine Auseinandersetzung zu beginnen, die ins eigene Innere führt. Ein Gedicht spricht man, um es zu teilen, seine Inhalte auszusenden, auf das Echo zu warten, das dann von einem anderen empfindsamen Wesen zurückkommt. Ein Gedicht hört man, weil es kein Wehren gibt, man die Ohren nicht verschließen kann, weil wir noch intensiver lauschen, wenn für uns geflüstert wird.
Jedes Gedicht braucht seine Tonspur
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