Jekyll & Hyde

Linksbündig Der Fall von Amstetten ist ein ländliches Phänomen

Wie konnte eine ganze Provinzstadt von nichts wissen? Eine Hausgemeinschaft schweigen, selbst die Ehefrau? Beides, das familiäre Schweigen wie das der Nachbarn, überraschen wenig. Sie sind Teil des Arrangements, in dem sich innerfamiläre Kindsschändungen ereignen bzw. ereignen können.

Väter, die ihre Kinder schänden, sind hochgradig gespaltene Persönlichkeiten. Sie sind extrem autoritätshörige Menschen, denen im engen Verbund der Kleinfamilie ein stärkeres Gegenüber fehlt. Ihr Sadismus äußert sich lange vor der Tat. Sie erproben mit Worten, wie weit sie gehen können, wann Partner oder Opfer Grenzen setzen. Es bedarf einer Atmosphäre der Angst in der Familie, damit die Tat geschehen und unentdeckt bleiben kann.

Für das Opfer ist es fast unmöglich, über den Missbrauch zu sprechen, da der Verstand das Geschehene nicht gewichten kann, Ekel und Selbstekel verschwistern sich. Es kann das Erlebnis kaum in Worte fassen, geschweige denn anderen glaubwürdig schildern.

Die Mutter, die als Zeugin zumindest die Vorbereitungen der Tat gesehen hat, hat sie billigend in Kauf genommen. Es bedarf vieler Jahre, während derer sich Täter und Mitwisser moralisch mit der Tat versöhnen. Die Mutter ist an den Partner extrem gebunden, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Stockholmsyndrom entwickelt und ist, wie das Entführungsopfer, dem Täter in Liebe verfallen.

Die Väter können in der Gesellschaft geachtete Persönlichkeiten sein, das ist nicht verwunderlich. Im Gegenteil. Sie wollen den dauernden Gegenbeweis zu ihrer schrecklichen Tat. Sie wählen deshalb ihre Zuhörer, Freunde und Bekannten genau aus, sie erziehen sich Zeugen für einen guten Leumund. Der Täter ist nicht zufällig nett, er tarnt seine Gespaltenheit. Er ist Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Forscher und Erfinder, Mörder und Bestie. Oft fühlen diese Täter eine Berufung zum Erzieher oder Priester, sie qualifizieren ihre Gespaltenheit und verleihen ihr eine moralische Aura.

Der Täter von Amstetten erklärt, er habe seine Tochter schützen wollen, er habe befürchtet, sie könne ins Drogenmilieu abgleiten. Das Kind habe Sehnsucht nach ihm gehabt und sich diese Sehnsucht nicht eingestehen können, hätte er mit der gleichen inneren Überzeugung sagen können. In einem anderen Fall, der dem Verfasser persönlich bekannt ist, äußerte ein Vater, dessen Tochter sich vor dem Elternhaus das Leben genommen hatte: Sie hätte doch ins Haus kommen und klingeln können! "Wenn jemand auf dieser Welt ein reines Gewissen hat, bin ich das!"

Warum gab es niemanden, der weder Teil der Kleinfamilie noch ausgewählter Freund und Vertrauter Fritzls war, der während 24 Jahren etwas Verdächtiges bemerkt hätte - in einer kleinen Stadt? Der Verfasser spricht aus eigener Erfahrung, sowohl als Zeuge wie als Betroffener. Eine ländliche Gemeinde kann ausdauernd schweigen, auch über Jahrzehnte hinweg. Das höchste Maß an Kritik, wenn die Angstschreie noch drei Häuser weiter zu hören sind, ist: "Der versündigt sich an seinen Kindern." Was Städter oft nicht für möglich halten: Auf dem Lande, auch in Deutschland, wird körperliche Gewalt gegenüber Kindern ohnehin häufig noch akzeptiert. In diesem Sinne sind die Nachbarn mitschuldig, auch sie arrangieren und versöhnen sich mit der Tat. In ihrer Vorstellung wird sie so harmlos, dass sie mit ihr leben können. Insofern mag man ihnen glauben, dass sie die Tat, in ihrer ganzen Grausamkeit, tatsächlich nicht kannten.

Hinzu kommt, dass im ländlichen Raum das eigene Haus als Sphäre begriffen wird, in dem der Eigentümer totalitäre Macht hat. Ein Gewaltverbrechen wie das von Amstetten ist insofern keine Grausamkeit, die selbst auf dem Land unbemerkt geschehen kann. Sie ist ein Landphänomen. Nur hier wird - bei aller sozialer Kontrolle im öffentlichen Raum - der Hausherr als uneinschränkter Herrscher akzeptiert. Nur hier ist es möglich, unter dem eigenen Haus einen Kerker zu bauen.

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