Oberflächencheck Ist doch klar, welche Typen sich tagsüber in Szenecafés aufhalten: Studentin, Tourist, Existenzialist, Model, Vater. Aber bestätigen sich die Klischees über sie auch?
Filmreife Kulisse: Eigentlich nur ein Café, aber wer hier sitzt, möchte bewundert werden
Foto: Dawin Meckel/ Ostkreuz
Das Café ist ein Ort der eigenen Alltagsinszenierung. Vor allem in der als „Castingallee“ verschrienen Kastanienallee in Berlin. So wie die Cafés einen bestimmten Lebensstil verkörpern, so sind auch die Menschen, die sie aufsuchen, ganz bestimmte Typen. Heißt es jedenfalls immer. Medien- und sonstige Kreativmenschen, freie Projektler, die nur so tun, als würden sie arbeiten, Typen in farbigen Röhrenhosen, die auf ihr Macbook starren, Bio-Boheme-Mamas mit Kinderwagen und Latte macchiato, Touristen. Und sicher keine Alteingesessenen. Aber stimmt das eigentlich? Oder sind wir nur Opfer unseres eigenen Schubladendenkens? Ein Oberflächencheck am Prenzlauer Berg:
Das Café „Morgenrot“ ist ein bisschen heruntergekommen, ein linker Stud
inker Studentenschuppen. Das Inhaberkollektiv organisiert hier politische Diskussionen, die Toilette ist voller Anti-Nazi-Sticker und Kritzeleien, darunter ein Zitat von Saint-Exupéry: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Der Ort wirkt wie ein Relikt auf dieser Straße, in der sich eine Boutique an die nächste reiht. Auf einer der schlichten Holzbänke draußen vor der Tür finden wir Typ 1:Die StudentinEine hübsche junge Frau mit langen braunen Haaren sitzt neben einem Dreitage-Bart und Ray-Ban-Sonnenbrillen-Freund. Auf dem Tisch steht ein aufgeklapptes Macbook, beide starren auf den Bildschirm. Bestimmt Zugereiste, die in Berlin auf Wohnungssuche sind. „Ich suche gerade ein Praktikum“, erklärt Mona, das mache im Café mehr Spaß als zu Hause. Ihren Bachelorabschluss hat sie bereits, jetzt macht sie den Master in Germanistik an der FU Berlin. Monatelang unbezahlte Vollzeitpraktika in den Auszeitsemestern sieht sie nicht mehr ein. Jetzt feilt sie an ihrer Bewerbung für ein bezahltes Praktikum in der Filmbranche. Anschließend komme dann hoffentlich der Jobeinstieg.Sie ist Berlinerin, wohnt eigentlich in einem ganz anderen Kiez, an diesem Nachmittag ist sie extra in dieses Viertel gekommen: „Heute sind wir mal Klischee“, sagt sie und lacht. Sie weiß, wer hier unterwegs ist. Zum Beispiel Typ 2:Der TouristVor einer Flasche Tysk-Bier sitzt mit glasigem Blick im schummrigen Halbdunkel des Raums ein Mittvierziger. Hager, Jeansjacke, Schlabber-T-Shirt.Ein Arbeitsloser, Alkoholiker vielleicht, denken wir. Falsch. Ed Mauger aus London ist Techniker im Kino und ein gewitzter Gesprächspartner. Er ist erst seit zwei Wochen in Berlin und besucht den Sprachkurs in der Schule nebenan. Ein paar Freunde würden herziehen, er teste gerade, ob das für ihn auch infrage käme, um mit seinem Geld ein kleines Programmkino zu eröffnen. „In diesem Café ist Leben“, sagt er, es sei ein Platz, an dem man relaxen kann. Die anderen Bars, ein paar Schritte weiter hoch, kennt er auch. Sie seien komfortabel, aber seelenlos. In London gebe es nur noch schicke, kalte Cafés oder Ketten wie Starbucks, normierte und effiziente Abfertigungscafés für einen Coffee to go.Is it all about the money?, fragt er sich. Multiplexe sind für Ed das cineastische Equivalent für die „Idioten ohne Hirn“. In London, am Leicester Square oder am Piccadilly-Circus, sei es gar nicht erlaubt, Tische und Stühle auf die Straße zu stellen, aber die Leute seien sowieso immer unter Druck. Für ihn ist das Café ein Lebensraum und dies hier eine besondere Straße: ein offener Raum, der zum Verweilen einlädt. Ed würde gerne noch weiterplaudern, aber wir müssen los.Szenenwechsel.Ins Café „Glücklich am Park“, vor dem teure Cabrios parken. Bunte Gartenmöbel stehen herum, überall nerven Spatzen. Auf der Toilette gibt es einen Wickeltisch. Ein Pärchen nutzt das Dekor für ein kurzes Fotoshooting, die junge Frau posiert vor dem iPhone ihres Freundes. Hier trifft man natürlich Typ 3:Der ExistenzialistIn einer schattigen Ecke sitzt Mister X und steckt seine Nase tief in ein Buch. Dicke schwarze Sonnenbrillengläser und schwarze Kleidung lassen ahnen: ein Künstler. Ein intellektueller Schriftsteller? Verwöhntes und menschenscheues Muttersöhnchen? Seltsam abwesend. Man traut sich kaum, ihn rauszuholen aus seiner Welt.Er sei zum Eisessen hier, behauptet er. Anonym. Er möchte nicht verraten, was er gerade liest (und steckt sein Buch in ein Lederetui), seinen Namen sagt er auch nicht.Aber immerhin: Er arbeite als Installationskünstler und Übersetzer, freiberuflich. Sein leichter amerikanischer Akzent verrät, dass er zugezogen ist. Seit drei Jahren lebe er nun schon hier, über seine Zeit verfüge er nach Belieben. Zu Hause falle ihm die Decke auf den Kopf, das sei der Grund, warum er sich viel in Cafés aufhalte: Cafés seien für ihn wie ein Klassenzimmer. In bestimmten Abständen suche er sich immer neue Orte, an denen er sich wohlfühle.Warum er das erzählen solle, fragt er. Man spürt, er würde eigentlich lieber einen Kunstdiskurs eröffnen. Aber wir suchen nicht die Tiefe, wir wollen ein bisschen an der Oberfläche kratzen. Deshalb schnell weiter zu Typ 4:Die ModelsZwei junge Frauen, unauffällig aufwendig gestylt mit Sonnenbrillen, langen blonden Haaren, die iPhones auf dem Tisch.Wahrscheinlich sind es Models, die auch als Hostessen auf Messen arbeiten und zwischen Event, Film, Partys und Medien pendeln. Bestimmt aus dem Westen.Dies sei ihr Stammcafé, erzählen die beiden, 24 und 26 Jahre alt. Ins Café zu gehen sei für sie „ein bisschen wie im Garten sitzen“, nur dass man da nicht dieses „Style-Ding“ hat und „das ist hier in der Gegend so ne Art Hobby“. Jeder denke, er sei superindividuell, habe sich aber in Wahrheit seinem Umfeld angepasst. Sie reflektieren das Klischee, das sie selbst nähren. „Wir wollen nicht so coole skandinavische Hipster sein“, sagen sie, sondern solche, von denen Touristen denken, sie seien gebürtige Berlinerinnen. (In Wahrheit stammen sie aus Frankfurt am Main und Reutlingen)Früher haben sie (Bingo!) nebenberuflich auf Messen und für Modelagenturen gearbeitet, heute brauchen sie das nicht mehr. Ein iPhone summt, der nächste Termin zum Kaffeetrinken für die beiden.Wir wollen Kaffeeklatsch offline halten, dieses soziale Ritual ist noch nicht ganz ausgestorben im öffentlichen Raum, und er sitzt da, ohne Laptop, Typ 5:Der VaterEin kleiner Junge rennt mit Eis und grünem T-Shirt herum, darauf steht: „Keiner ist gleich“. Und auf der Rückseite: Humboldt-Gemeinschaftsschule. Sein Vater hat schwarze längere Locken, trägt ein legeres Jackett, Jeans und T-Shirt, schaut auf sein Smartphone. Hat er ein Start-up gegründet, gehört ihm eine Agentur oder Internet-Firma?Markus Weis, 46, ist Maler aus Konstanz. Und erklärt erst mal das T-Shirt seines Sohnes. Der gehe auf eine „super Schule“, in der „Kinder mit verschiedenen Niveaus“ gleich behandelt würden. Ein anderer Junge mit einem Michael-Jackson-Hut ist sein zweiter Sohn. Er kommt gerade von einer Theateraufführung in der Schule, zur Belohnung gab es drei Kugeln Eis. Das Café läute die Chilling-Phase ein, sagt er, es sei hier wie auf dem Dorf: Ob Spielplatz, Park oder Café, man kenne sich. Sein Atelier hat er in einer Fabriketage, in einem weniger angesehenen Viertel, im Wedding. Auch da gehe er mal raus, es gebe aber nur Currywurst, Döner und Moscheen.Am Nebentisch spricht jemand mit bayerischem Dialekt. Filmregisseur Veit Helmer hat gerade eine Besprechung mit einer Ausstatterin. „Ja, hier san ganz andre Leit als da oben im „Morgenrot“, ned?“, ruft er. Sie treffen sich oft in Cafés, erzählt seine Kollegin, hier im Prenzlauer Berg sei es um diese Zeit leer, „denn hier wird gearbeitet“. In Kreuzberg dagegen hängen die jungen Menschen nur rum. Wo die Leute nur die Zeit hernehmen, wundert sie sich. Gefragt hat sie noch nie.
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