Jesus starb nicht an Altersschwäche

Befreiungstheologie Der Vatikan meint immer noch, durch doktrinäre Dokumente, die nichts mit dem Leben der Gläubigen in Lateinamerika zu tun haben, die Befreiungstheologie abwürgen zu können

Weil sie stets eine moderne Lehre war, hat die Theologie der Befreiung einen nicht zu unterschätzenden Anteil am Wandel, den Lateinamerika seit mehr als einem Jahrzehnt durchlebt. Ob in Brasilien, Paraguay, Nicaragua oder El Salvador, überall verstand sich diese Lehre zuallererst als „Theologie der Basis“, die am Rande der Kirchen entstand, nicht in den städtischen Zentren des geheiligten Denkens. Wegen dieses Ursprungs ist sie den
akademischen Theologen bis heute verdächtig, besonders der Bürokratie der wichtigsten Kirche, die es gibt – der römisch-katholischen. Dennoch wandern unsere Ideen inzwischen bis nach Afrika und breiten sich in der Ersten Welt aus, wenn dort Menschenrechte nicht nur proklamiert, sondern ernst genommen werden.

Denn Armut hat so viele Gesichter: Das der Ureinwohner Südamerikas, die aus uralter Weisheit eine Theologie der indigenen Befreiung geschaffen haben. Das der Frauen, die seit dem neolithischen Zeitalter unter die Herrschaft des Patriarchats geraten sind. Oder das Gesicht der Arbeiter, die nur noch Treibstoff der Produktion sind.

Die theologische Grundfrage lautet: Wie kann man einem Gott glauben, der ein gütiger Vater in einer Welt voller Elend sein soll? Da in den Ländern Lateinamerikas die Elenden in ihrer Mehrheit stets Christen waren, konnte es deshalb nur darum gehen, den Glauben zu einem Faktor der Befreiung zu machen. Das heißt, die Kirchen, die sich als Erben von Jesus verstehen, der ein Armer war und nicht an Altersschwäche gestorben ist, sondern am Kreuz – sie mussten die natürlichen Alliierten einer Bewegung armer Christen sein. Diese Allianzen gab es überall, wo es prophetische Priester, Bischöfe und Kardinäle gab wie Helder Camara und Paulo Evaristo Arns in Brasilien, Oscar Arnulfo Romero in El Salvador oder Ernesto Cardenal in Nicaragua.

Als die Theologie der Befreiung in den achtziger Jahren zu einer internationalen Bewegung wurde, fanden sich mehr als 100 Theologen aus Lateinamerika zusammen, um ein 53-bändiges theologisches System aus Sicht der Befreiung zu redigieren. Es waren bereits 13 Bände publiziert, als der Vatikan eingriff, um das Projekt zu hintertreiben. Der damalige Kardinal Joseph Ratzinger tat sich dabei besonders hervor. Er zerstörte unsere wohltätige Arbeit für die peripheren Kirchen nach Kräften. Ihn wird die Geschichte als einen Kardinal und einen Papst in Erinnerung behalten, der ein Feind der Intelligenz der Armen war. Doch hinderte das die Theologie der Befreiung nicht daran, ihre politische Kultur zu entfalten.

So konnten die Bewegung der Landlosen und die indigene Pastorale entstehen und zu einem Fundament für die Arbeiterpartei in Brasilien werden, deren Führer, der heutige Präsident Lula da Silva, immer zun den Befreiungstheologen gestanden hat. Außer Lula bekennen sich dazu der Staatschef von Paraguay und Ex-Bischof Fernando Lugo, Daniel Ortega in Nicaragua und der augenblickliche Präsident der UN-Generalversammlung, der nicaraguanische Priester Miguel d‘Escoto. Die Kraft dieser Theologie ist keiner theologischen Lehrkanzel, sondern ungezählten kirchlichen Basisgemeinden (allein in Brasilien 100.000) zu verdanken wie Abertausenden von Zirkeln, in denen man die Bibel im Kontext der sozialen Pastoralen liest.

Der Vatikan verfällt weiter der Illusion, durch doktrinäre Dokumente, die nichts mit dem Leben der Gläubigen in Lateinamerika zu tun haben, die Befreiungstheologie abwürgen zu können. Aber solange das Lamento der Armen und das Ächzen der Erde unter einem aberwitzigen Produktions- und Konsumwahn zu hören sind, gibt es Tausende von Gründen, dem Ruf einer Freiheit liebenden, revolutionären Auslegung der Evangelien zu folgen. Unsere Theologie ist nicht nur die Antwort auf eine ungerechte Realität – sie befreit die Kirche von ihrer Entfremdung und einem Zynismus, der sie beherrscht.

Leonardo Boff, Jahrgang 1938, ist ein brasilianischer Schriftsteller und gilt als einer der Hauptvertreter der Befreiungstheologe

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden