Kurz vor Schluss, nach gefühlten fünf Stunden und einem dieser unsäglich öden Masse-Einsprengsel, steigt eine junge Musikerin aus dem Orchestergraben, beginnt zu singen, wälzt sich mit dem Bühnenbildner in wilder Umarmung über den Boden, kehrt zurück zu ihren Kollegen und sagt: "Tschuldigung, hat mir aber Spaß gemacht. War mal was anderes."
Das dürfte sich Frank Castorf auch gedacht haben, als er auf die Idee kam, Richard Wagners Oper Die Meistersinger von Nürnberg mit Ernst Tollers Revolutionsdrama Masse Mensch zu kombinieren. Musiktheater ist für ihn Neuland. Sein Kollege Christoph Marthaler hat erfolgreich gezeigt, wie man mit musikalisch Geschnetzeltem großartige Theaterabende zaubert und dabei gesellschaftspolitisch Stell
llschaftspolitisch Stellung bezieht.Die Gelegenheit für parodistische Exzesse, für die sich die Gattung Oper so anbietet, lässt sich der Volksbühnenchef nicht entgehen. Die Chance, die Musik als "Kraftwerk der Gefühle" zu nutzen, schon. Castorf unterschätzt seinen Wagner als Sparringspartner, dem er eine aufs antisemitische und eine aufs nationalistische Auge verpasst und ihm anschließend gönnerhaft den Arm um die Schulter legt. Am Meistersinger-Text um den Ritter Walther, der im Werben um die Goldschmiedstochter Eva mit Hilfe von Hans Sachs die erstarrte Kunstauffassung der Nürnberger Meister revolutioniert, arbeitet er sich ab. Wagners Musik hingegen dient ihm vor allem als Soundtrack - oder als Parodievorlage.An Tollers Masse Mensch arbeitet er hingegen gar nicht, sondern lässt die expressionistischen Textschnipsel aufsagen wie beim Schultheater. Wie das Revolutionsdrama nun zur komischen Oper passen soll, wird nicht offensichtlich. Wagner war ein 1848er, Nietzsche hat die Vermassung in Bayreuth kritisiert, und schließlich: Sind wir nicht alle ein wenig revolutionär? Das reicht nicht. Das langweilt.Davor, dazwischen und danach ergeben sich immer wieder wunderbar skurrile Szenen, deren Wirkung zu einem wesentlichen Teil den grandiosen Castorf-Schauspielern zuzuschreiben ist. Sophie Rois kann ohnehin krächzen, was sie will, um es in Gold zu verwandeln, Bernhard Schütz verleiht seinem Sachs eine erfrischend fiese Note, Marthaler-Sänger Christoph Homberger als Walther gibt in Strumpfhosen und mit Bauch die Parodie eines Heldentenors und Max Hopp lässt seiner Beckmesser-Figur endlich Gerechtigkeit widerfahren, indem er aus dem Nörgler und Nebenbuhler eine tragische Figur macht, dem Sachsens Repressalien in allem Gliedern zucken.Überhaupt gehören die Verweise auf den "jüdischen" Beckmesser und den autoritären Kleingeist der Meister - obwohl hinlänglich bekannt - zu den besseren Momenten der Inszenierung. Zwei Sängerinnen fragen wie Aufziehpuppen: "Was ist denn das jüdische in der Musik?", Hans Sachs maßregelt nicht nur seinen Lehrjungen David, sondern zieht gleich allen die Ohren lang, Beckmesser wird auch mal als Grünstein oder Rothschild bezeichnet, will Sachs abzocken und landet zuerst auf dem Misthaufen, dann im Orchestergraben.Ansonsten füllt Castorf die guten zweieinhalb Stunden im anarchistischen Schlumpfhausen-Bühnenbild von Jonathan Meese mit Selbstzitaten, kotzenden Holzpferden, Farbe, Federn und Föten im Glas. Hier und da reißt er weitere Diskurse an, um sie gleich wieder fallen zu lassen, schickt den Chor quer über die Bühne und lässt die MG´s ballern. Im Osten nichts Neues.War da noch was? Ach ja, Wagners Musik. Dass sie schließlich doch zu ihrem Recht kommt, liegt vor allem am kleinen, aber feinen Orchester aus zwei Klavieren, Bläserquintett und Keyboard, das die kluge Bearbeitung von Stefan Wirth unter der Leitung von Christoph Keller klar und differenziert spielt. Auch der erstaunlich singende und spielende "Chor der werktätigen Volksbühne" - Mitarbeiter aus Kantine, Büros und Gewerken - trägt mit dem Eingangschoral und dem Festwiesenfinale zum erfrischenden Klangerlebnis bei. Dumm nur, dass das eigentliche Konzept, durch die Musik-Skelettierung die textdeklamatorische Seite von Wagners Komposition erfahrbar zu machen, auch hier an häufiger Unverständlichkeit scheitert.Musik ist auch für den Bühnenberserker Christoph Schlingensief wichtig. In seiner Installationsshow Kaprow City, mit der die Berliner Volksbühne eine Woche vor den Meistersingern ihre Spielzeit eröffnete, wabert sie immer wieder fettig im Hintergrund. Im Vordergrund läuft dazu ein Film, der hinter dem eisernen Vorhang gedreht wird. Diesem Live-Act im trashigen Installationspanorama, das auch auf Schlingensiefs Bayreuth-Debut Bezug nimmt, dürfen nur ein paar Auserwählte beiwohnen. Der Hauptteil des Publikums sitzt im Saal und starrt auf schlecht beleuchtete Filmsequenzen in miserabler Tonqualität, um hin und wieder durch ein Hochfahren der Raumtrennung daran erinnert zu werden, das leibhaftiges Theater auratisch und also viel spannender ist.Eine Handlung scheint der Film nicht zu besitzen, und wenn, dann wird man sie erst dann verstehen, wenn der gesamte Dreh abgeschlossen ist. Jeder Abend an der Volksbühne bleibt so Fragment. In diesem Sinne ist Kaprow City wie das Leben: Man sieht nur Ausschnitte, die man nicht begreift und denen man trotzdem einen Sinn zuweisen möchte. Glücklicher Weise ist das Leben nicht so langweilig.