Jetzt Mauern einreißen!

Spanien Unser Autor hält das Land keineswegs für unregierbar. Die Mehrheit für eine Regierung ist vorhanden, man muss sie nur nutzen, diesmal ohne Spielereien
Ausgabe 46/2019
Der spanische Ministerpräsident und Kopf der sozialistischen Partei: Pedro Sánchez
Der spanische Ministerpräsident und Kopf der sozialistischen Partei: Pedro Sánchez

Foto: Marcelo del Pozo/Getty Images

Pedro Sánchez, dem Regierungschef und Führer der sozialdemokratischen PSOE, galt die Wahlwiederholung offenbar als eine Art Roulette. Die eingeworfene Spielkugel war das spanische Volk, die Wette lautete: Wir bitten das Land erneut zur Urne, dann wird es sich schon einsichtig zeigen, uns als (angeblich) einzige gemäßigte Kraft noch stärker machen und alle anderen schwächer, auf dass wir regieren können.

Es war von Anbeginn ein unverantwortliches Spiel. Sánchez wusste: Das Urteil im Unabhängigkeitsprozess mit den erwartbar langen Gefängnisstrafen würde im Oktober gefällt sein. Danach war in Katalonien mit einem Aufruhr zu rechnen, der für Spaniens Rechte Aufwind bedeuten würde. Zudem wühlte Ende Oktober die – bewusst so geplante – Umbettung des Leichnams von Francisco Franco, Spaniens langjährigem Diktator, die rechten Gemüter auf. Aber Sánchez sah sich als starken Mann und wähnte sich in der Lage, mit alldem umgehen zu können. Ja, sogar mit Law-and-Order-Gesten zu punkten.

Wer meint, mit der Volkssouveränität Roulette spielen zu können, verliert in der Regel. Spanien bildet da keine Ausnahme. Zwar sind die Sozialisten mit 28 Prozent weiter stärkste Kraft, aber die Kräfteverhältnisse bleiben nach diesem Votum, wie sie waren. Für den linken und rechten Block gilt ein Patt. Wie im April mit leichtem Vorsprung für die Linken, allerdings ohne Mehrheit (158 von 350 Sitzen).

Doch eines muss man Sánchez, dem Spieler, lassen. Solange er Spanien paralysiert hielt, so schnell handelte er jetzt. In kaum 48 Stunden wurde möglich, was zuvor in sechs Monaten ausgeschlossen blieb. Es gibt den Entwurf eines Koalitionsvertrages mit der Linkspartei Unidas Podemos. Plötzlich lagen sich Podemos-Chef Pablo Iglesias und Sánchez in den Armen, als hätte es kein Gestern und nie monatelange Anfeindungen gegeben. Für das Land ist das – hoffentlich nicht kurzlebige – Agreement ein Lichtblick.

Die Annäherung von PSOE und Podemos wurde durch den Vormarsch der Rechtsaußen-Partei Vox förmlich erzwungen. Mit der hält nun eine unverhohlen franquistische Kraft 52 Mandate im Parlament und dürfte die konservative Partido Popular (PP) vor sich hertreiben. Die rechtsliberale Partei Ciudadanos hat erfahren, was passiert, wenn man die Ultrarechten rechts zu überholen sucht: Man wird von ihnen geschluckt und hat unversehens statt 57 nur noch zehn Sitze. Ob diese zehn Liberalen eine Koalition aus PSOE und Podemos durch tolerierende Stimmenthaltung ins Amt heben? Schwer vorstellbar.

Man muss schon einen Blick über den Madrider Tellerrand hinaus riskieren. Die Stimmen, die einer Linksregierung fehlen, können aus den Regionen kommen. Aus dem Baskenland oder aus oft vergessenen Gegenden wie Teruel oder Kantabrien sind sie fast sicher. Es bleibt die Frage: Wie entscheiden sich die katalanischen Abgeordneten, nachdem in ihrer Region die Unabhängigkeitskräfte erstmals über die 40-Prozent-Marke kamen? Mit Fingerspitzengefühl könnte eine mutige Regierung dieses Potenzial einbinden. Teilweise zumindest, wenn die roten Linien verschwinden. Podemos wie die souveränitätswilligen Katalanen sind legitime Akteure, sie gehören zu Spaniens Demokratie. Das Land ist nicht unregierbar, sondern die Mehrheit für eine Regierung vorhanden, man muss sie nur nutzen, diesmal ohne Spielereien. Das Betrauern einstiger Stabilität bringt nichts.

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Geschrieben von

Conrad Lluis Martell | conrad lluis

Forscht zur Bewegung der indignados (Empörte) und ihren Auswirkungen auf Spaniens Politik und Gesellschaft, lebt in Barcelona, liebt den Bergport.

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