Jetzt regiert Hegel

Interview Der Philosoph Étienne Balibar über die Rettung Europas und Emmanuel Macron, der sein Student war
Ausgabe 12/2018

Vor 30 Jahren erschien ein Band, der in der linken Debatte bleibende Spuren hinterlassen hat: Race, nation, classe von Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein, ein Versuch, zu verstehen, wie Rassimus und Klassenverhältnisse zusammenhängen. Anlässlich des Jubiläums veranstaltete das Haus der Kulturen der Welt in Berlin das Symposium Dangerous Conjunctures, das Wirkung und Aktualität des Buchs diskutierte. Der französische Marxist war auch dabei.

der Freitag: Herr Balibar, vor 30 Jahren ist Ihr Buch Race, nation, classe erschienen. Vieles darin liest sich, als sei es heute, und für heute, geschrieben.

Étienne Balibar: Was mich damals beunruhigte, war die Entwicklung in Frankreich: Das Aufkommen des Neo-Rassismus, eines kulturalistischen Rassismus, repräsentiert durch eine Bewegung – den Front National. Mein Ausgangspunkt war, dass wir uns nicht mit traditionellen antirassistischen Slogans zufrieden geben konnten, sondern vielmehr die Frage nach dem Platz von Rassismus im Feld des Politischen und damit auch des Sozialen stellen mussten. Heute – im Zeitalter der Globalisierung – hat sich das, was wir vor 30 Jahren im Kleinen mit dem Front National beobachten konnten, verallgemeinert, auf globaler Ebene: Es geht also darum zu verstehen, wie in einer neuen Phase des Kapitalismus, der Globalisierung, die Nationalismen an Stärke gewinnen, und sich die traditionellen Formen des Rassismus erneuern.

Inzwischen sprechen Sie in Bezug auf die neuen rechten Bewegungen von einem Neofaschismus.

Ich habe dieses Wort benutzt, weil ich nicht glaube, dass es ausreicht, bloß von Nationalismus oder Populismus zu sprechen. Der Begriff des Populismus tendiert dazu, Bewegungen, die heterogen sind, zu vermengen und andererseits wichtige Dimensionen des Problems zu verdecken. Der Begriff des Neofaschismus hat jedoch auch seine Tücken, weil er – wie alle historischen Analogien – suggeriert, dass wir genau wissen, worum es sich dabei handelte und wie wir heute darauf reagieren können.

Zur Person

Étienne Balibar, 75, ist Philosoph, war Schüler Louis Althussers. Er lehrte an der Universität Paris-X (Nanterre). Die deutsche Version von Rasse, Nation, Klasse erschien 1990 im Argument Verlag. Der Jubiläumsband erscheint in einer Zusammenarbeit von Argument Verlag und dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin

Foto: Imago

Was ist dann der Unterschied?

Natürlich gibt es Kontinuitäten und Anknüpfungen zum europäischen Faschismus. Aber die Formen, die diese Radikalisierung von rechts annehmen kann, sind nicht einfach nur Wiederholungen dessen, was in den 1930er Jahren passierte. Ein wichtiger Unterschied ist, dass der historische Faschismus im Kern durch seine Frontstellung gegen den Kommunismus geprägt war, gegen linke revolutionäre Bewegungen, was heute nicht mehr der Fall ist. Einige der neuen rechten Bewegungen sind globalisierungsfeindlich, EU-feindlich, aber das ist nicht dasselbe wie die Konfrontation zwischen linksrevolutionären und rechten konterrevolutionären Bewegungen.

Zugleich konstruieren die Rechten aber eine europäische, „abendländische“ Identität?

Ja. Ich war da vor ein paar Jahren vielleicht zu optimistisch, als ich schrieb, dass es keine Vereinigung der fremdenfeindlichen und populistischen Bewegungen in Europa geben werde, weil sie wegen ihres je eigenen Nationalismus keine gemeinsame Sprache finden können. Nun sehen wir, dass sie durchaus eine gemeinsame Sprache entwickeln: Weil sie einen gemeinsamen Feind gefunden haben, den Islam. Der Islam wird als Bedrohung imaginiert, als Gefahr einer terroristischen, religiösen, zivilisatorischen Subversion, zugleich als innerer und äußerer Feind: Gewissermaßen als Dublette der einstigen kommunistischen Gefahr. Aber zurück zu Europa: Natürlich ist es etwas völlig anderes, die angeblichen Werte des Abendlands zu verteidigen oder das europäische Projekt zu verteidigen.

Nun ist auch das Verhältnis der Linken zu Europa, gelinde gesagt, gespalten.

Gewiss. Ich denke allerdings, dass es nur auf europäischer Ebene möglich ist, eine Alternative zu den destruktivsten Tendenzen des gegenwärtigen Kapitalismus zu entwickeln. Die Linken, die die Nation zum Bollwerk gegen den Neoliberalismus machen, irren sich. Aber ich muss zugeben, dass meine Position genauso schwach ist wie ihre: Wir brauchen ein vereintes Europa, aber nicht so, wie es derzeit existiert. Die derzeitige Entwicklung der europäischen Institutionen ist höchst gefährlich, weshalb es wichtig ist, die Politik der EU und ihre Institutionen zu kritisieren, ohne die Idee einer gemeinsamen Politik und eines gemeinsamen europäischen Projekts aufzugeben.

Verlagert die Schaffung einer europäischen Identität – auch von links – das Problem nicht einfach auf eine höhere Ebene?

Ich glaube nicht, dass es eine europäische politisch-kulturelle Identität geben könnte, die die gleiche Intensität und hegemoniale Kraft wie der Nationalismus für die Nationalstaaten hätte. Das Identitätskonstrukt der fremdenfeindlichen Bewegungen ist im Wesentlichen negativ, reaktionär und defensiv. Die nationalen Identitäten in Europa sind hegemoniale Formationen, die viel substantieller, komplexer und widersprüchlicher sind, als nur auf der Ablehnung des Feindes oder des anderen aufzubauen. Wir müssen uns also fragen, auf welchen ideologischen Grundlagen eine postnationale oder föderale europäische Identität entstehen könnte, wenn die Verteidigung gegen imaginäre Eindringlinge dafür nicht genügt.

Wie könnte das aussehen?

Die Versuchung bestünde, mit Habermas zu sagen: Diese Identität hat einen wesentlich juristischen Inhalt, es ist die demokratische Politik selbst. Quasi eine Art Verfassungspatriotismus auf europäischer Ebene. Aber ich denke, das genügt nicht. Die Bürger Europas, und insbesondere diejenigen, die keine greifbaren finanziellen Vorteile aus der Globalisierung oder der neoliberalen Wirtschaft ziehen, wollen keine supranationale Union, die nationale Identitäten transzendiert und relativiert, und zugleich als Ideal und Interesse alleine auf Verfassungspatriotismus verweist. Habermas hat zu Recht die derzeitige Verfassung der EU als „post-demokratischer Exekutivföderalismus“ bezeichnet – ein großartiger Ausdruck für das Manko an Repräsentation und deliberativer Demokratie.

Wie wäre Europa denn noch zu retten?

Wenn das europäische Projekt weiter existieren soll, muss ein gesetzgebendes und parlamentarisches Gegengewicht zur Allmacht der europäischen Bürokratie und Exekutive vorhanden sein. Wir können den Nationalstaat nicht zugunsten einer supranationalen Konstruktion schwächen, wenn diese eine demokratische Regression darstellt. Im Gegenteil, sie sollte eine Weiterentwicklung und Ergänzung der Demokratie sein.

Muss Europa nicht auch eine Antwort auf die soziale Schieflage finden?

Hier bin ich ein alter, unverbesserlicher Marxist. Die nationale und die soziale Frage waren in der Geschichte unserer Gesellschaften nie voneinander getrennt. Einer der Hauptgründe, warum sich der Nationalismus und die Fremdenfeindlichkeit ungehindert entwickeln können und sogar Einfluss in der Linken gewinnen, ist der Umstand, dass die EU nicht nur auf dem Vergessen und der Leugnung der sozialen Frage aufbaut, sondern explizit auf einer Politik des Sozialabbaus und einer Zerschlagung des Wohlfahrtsstaates. Solange wir das Problem des sozialen Europas nicht angehen, werden wir keine Alternative zum Nationalismus entwickeln können.

Emmanuel Macron war Ihr Student, hat seine Magisterarbeit bei Ihnen geschrieben. Wenn er Hegel zitiert, scheint da die Erinnerung an den Lehrer durch?

Sie werden lachen: Am Tag nach Macrons Wahl rief mich ein Kollege an, der Professor an der gleichen Universität wie ich war, ein sehr guter Hegel-Spezialist. Er rief mich an und fragte: Hast du Macrons Abschlussarbeit behalten? Er habe Macron gerade im Fernsehen gehört, als er sagte, er sei nicht rechts und nicht links, sondern gleichzeitig rechts und links, worin er, mein Kollege, sofort das Hegel’sche „Zugleich“ erkannt habe. Die Sache ist: Ich selbst habe nicht nur die Arbeit nicht behalten, sondern etwas viel Schlimmeres getan. Als ich gefragt wurde, was ich von meinem ehemaligen Schüler halte, antwortete ich, absolut aufrichtig, dass ich keinerlei Erinnerung an ihn habe. Das wurde zu ihm weitergetragen, worauf er sagte, dass er zwar nicht sauer sei, aber das als beleidigend empfand.

Wie stehen Sie zu Macrons Projekt? Ist es neoliberal?

Ich bin äußerst skeptisch gegenüber Versuchen, das Verhalten eines Politikers vorherzusagen, der wie Macron über eine gewisse Initiative und Intelligenz verfügt. Denn es kann immer sein, dass er plötzlich das genaue Gegenteil von dem tut, was man sich ausgerechnet hat. Wenn man allerdings versucht, die ideologische Prägung Macrons zu verstehen, dann denke ich, dass die einem Technokratismus à la française, also der Staatsideologie höherer Beamten, viel näher kommt als einfach dem Neoliberalismus. Wir sind ein zentralistischer Staat napoleonischer Tradition, in dem die Idee, dass der Staat eine entscheidende Rolle bei der Organisation des sozialen Lebens spielen soll, äußerst mächtig ist. Macron wird also nicht schlicht und einfach das Instrument der Zerschlagung des französischen Etatismus zugunsten privater Unternehmen sein. Zugleich ist das, was er auf europäischer Ebene tun kann, nicht unabhängig von dem, was er in Frankreich unternimmt. Und derzeit ist seine Politik vollkommen klar; Sie haben Recht, sie neoliberal zu nennen.

Wie passt das zu seinen Plänen für Europa, die auch in der linken Mitte auf Zuspruch stoßen?

Macron wird den Kern des Vertrags von Maastricht nicht anrühren, also die Idee, dass die Beziehungen zwischen den europäischen Volkswirtschaften und Staaten durch das Prinzip des freien Wettbewerbs geregelt werden sollen. Und selbst wenn er es wollte, ist klar, dass der deutsche Finanzminister das nicht zulassen wird. Das zwingt uns dazu, einiges an Macrons Projekt für Europa zu relativieren, das soviel Hoffnung in der (linken) Mitte hervorruft, etwa die Idee einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik. Ich sage nicht, dass die nicht Teil seiner Ideologie oder der seiner Berater ist, aber sie wird auf jeden Fall schnellstmöglich geopfert werden.

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