John Ruskin 1862 und heute

Die Buchmacher Ein Buch als Einladung zu einer wirtschaftsphilosophischen Zeitreise: Was uns die Vergangenheit über die Gegenwart sagen kann
Ausgabe 17/2017

Aus der Veröffentlichungswelle kapitalismuskritischer Literatur sticht diese Neuauflage allein schon aus zeitlichen Gründen hervor: 1862 publizierte der Sozialphilosoph John Ruskin Diesem Letzten. Vier Abhandlungen über die ersten Grundsätze der Volkswirtschaft. Vor kurzem hat der Westhafen Verlag, spezialisiert auf die Wiederentdeckung vergriffener Bücher, das Werk neu herausgebracht. Dieser Versuch, Ruskins damalige Kritik des ökonomischen Denkens für aktuelle Wirtschaftsthemen wie die Wachstumsfrage fruchtbar zu machen, ist zwar reizvoll, aber auch mit interpretationsbedingten Fallstricken verbunden.

So liegt es intuitiv zwar nahe, das Werk als typische Sozialkritik des vom Manchesterliberalismus gezeichneten Großbritanniens des 19. Jahrhunderts zu verorten. Das trifft aber nicht zu. Ruskins Kritik richtet sich nicht zuvorderst gegen die materiellen Herrschaftsverhältnisse seiner von massiven Umwälzungen betroffenen Zeit. Stattdessen knöpft er sich – sprachlich und stilistisch treffsicher – die Nationalökonomie und deren Anhänger vor, kritisiert deren Weigerung und Unfähigkeit, eine sinnvolle Antwort zu geben auf die Frage nach dem Wesen des obersten Bewertungskriteriums des Wirtschaftens: des Reichtums, des wealth of nations.

Der „erste Zweck“ des Werks ist daher, „einen genauen und sichern Begriff des Reichtums zu geben“. In „zweiter Linie“ soll „gezeigt werden, daß die Erwerbung von Reichtum schließlich nur unter gewissen ethischen Voraussetzungen der Gesellschaft möglich ist“. Mit seinem ersten Ziel scheitert Ruskin auf tragische Art und Weise. Seine aristotelisch-thomistischen Ausführungen zu Geld, Preisbildung und Werten gehen systematisch an der emanzipatorischen Absicht moderner liberaler Theorie vorbei, welche den Menschen selbst und eben keine höhere Allmacht als gesetzgebendes Wesen für Wirtschaft und Politik sieht. Ruskin wirkt daher mit seinen eigenen normativen Empfehlungen zum guten und gerechten Reichtum nicht nur heute, sondern auch im Kontext des 19. Jahrhunderts aus der Zeit gefallen. Dies führt zu einem weiteren Interpretationsproblem: Ruskins Theorie losgelöst von seiner christlich-harmonistischen Vorstellung von göttlicher Gerechtigkeit sehen zu wollen, wird seinem Denken nicht gerecht. Klar distanzierte sich Ruskin vom „gewöhnlichen sozialistischen Gedanken“ von Eigentumsteilung und unstandesgemäßer Gleichheit. Wie würde er wohl über seine heute lebenden Anhänger im Lager von Postwachstumsbewegung oder Konsumkritik denken?

Ruskins zweites Ziel, die inhärent notwendige (Wieder-)Anbindung der Reichtumsfrage an sozialethische Lebensfragen darzulegen, ist dafür umso mehr ein großartiger Erfolg. Die begründungstheoretische Absurdität der stets vergeblichen Desintegration von Wirtschaft und Werten, wie sie kurz darauf die Lausanner Schule und die entstehende Neoklassik in ihrem ökonomischen Reduktionismus sogar noch verschärft anstreben sollten, wurde in dieser Klarheit erst Jahrzehnte später von Denkern wie Georg Simmel und Karl Polanyi gesehen. Es ist somit gerade Ruskins Distanzierung vom modernen antimetaphysischen Denken, sein „Anachronismus“, die uns einlädt, auch heute im Geld- und Wirtschaftskontext stets „die Lebensfrage des Einzelnen, wie der ganzen Nation“ zu reflektieren, die nicht lautet: „Wie viel schafft man?“ Sondern: „Zu welchem Zweck verwendet man’s?“

Info

Diesem Letzten John Ruskin Anna von Przychowski (Übers.), Westhafen 2017, 220 Seiten, 14,95 €

Michael Heumann ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen

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