Journalismus als Geisterbeschwörung

Iran Die Berichterstattung aus Iran steht unter Zensur. Früher bedeutete das, man erfuhr quasi nichts. Heute garantiert Zensur, dass ein Thema ans mediale Schwungrad gelangt

Das oppositionelle Hauptpersonal im Iran stammt aus der politischen Elite und war einst linientreu: Hussein Mussawi regierte als Ministerpräsident, Mehdi Karrubi war Parlamentspräsident und Großajatollah Sanei Chef des Wächterrates. Trotzdem gibt es jede Menge Kommentare von Journalisten an Schreibtischen, die Tausende Kilometer oder mehr von Teheran entfernt stehen, mit Durchblick: demnach geht es nicht um einen Machtkampf innerhalb der politischen Elite der Islamischen Republik nach dem Wahlbetrug beim Präsidentenvotum vom 20. Juni, sondern – so die Ferndiagnostiker – um einen Kampf „gegen das System als solches“, um „eine grüne Revolution“, um einen Konflikt, der möglicherweise zum „Bürgerkrieg“ wird. Gelegentlich gewinnt man den Eindruck, die Kommentatoren möchten diesen geradezu herbei schreiben.

Die Faktenbasis der Berichte spricht allen journalistischen Standards Hohn. An Großayatollah Montazeris Beerdigung am 21. Dezember soll eine halbe Million Menschen teilgenommen haben. Allein die Frage nach dem Transport solcher Massen in die Heilige Stadt Qom wirft Fragen auf, die nicht einmal gestellt, geschweige denn beantwortet werden. Angeblich demonstrieren nicht nur „Menschenmassen“, sondern „jedes Mal mehr Menschen“ seit Juni 2009. Die wenigen Bilder dagegen zeigen recht überschaubare „Massen“ und der Fernsehsender France 2 zeigte am 28. Dezember – aus „Versehen“ – Bilder von Demonstrationen aus Honduras, um den Mangel an Bildern aus dem Iran zu kompensieren. Die authentischen Aufnahmen großer Agenturen zeigen Polizisten und Revolutionswächter, die sich mit kleinen Gruppen von militanten Demonstranten prügeln.

Aus Köln, Paris, Frankfurt, Beirut und Kairo spekulieren Journalisten über Folterung und Vergewaltigung von Verhafteten. Über deren Zahl erfährt man gar nichts außer der Vermutung, es seien „Tausende“. Die seriöseren Berichterstatter sagen, dass die Belege für ihre Vermutungen so dürftig sind, wie das unartikulierte Gestammel der Blogger-, Facebook-, YouTube- und Twitter-Szene, ergänzt durch den Exilradikalismus von Organen wie Radio Zamaneh in Amsterdam. Der omnipräsente Timothy Garton Ash schwört mangels Informationen auf die neuen Informationstechnologien, obwohl er gleichzeitig einräumen muss, dass sich diese bisher vor allem bei der „Gerüchteverbreitung“ bewährt haben.

Außer auf das revolutionierende Potential der Technologie setzen viele Kommentatoren auf die obskure Macht der Geschichte: Parallelen zur islamischen Revolution von 1978/79 sind vielleicht legitim, aber schon der Bezug auf die demokratische Verfassungsbewegung von 1906 ist abwegig. Vollends an den Haaren herbeigezogen ist der Verweis auf die Ermordung des Imam Hussein vor 1.329 Jahren, weil die Proteste beim schiitischen Ashura-Fest, das daran erinnert (10. Tag des Monats Muharram), besonders heftig ausfielen. Derlei Berichterstattung gleicht einer Geisterbeschwörung.

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