Jubeljahre

Linksbündig Jemanden vergessen? Vor uns liegt das Mozart-Brecht-Rembrandt-Freud-Beckett-Heine-Jahr

Jetzt haben wir es hinter uns gebracht, das Schiller-Einstein-Andersen-Jahr. Zeit, Versäumnisse zu resümieren. Ein Datum nämlich wurde 2005 schmählich übersehen: der 535. Jahrestag des Jubiläums. Man schrieb das Jahr 1470, als Papst Paul II. die Jubeljahr-Periode endgültig auf 25 Jahre senkte. Eingeführt hatte es Papst Bonifaz VIII. im Jahr 1300, nach dem Vorbild des hebräischen "Halljahres" (Luther), in dem ersatzlos Schulden er- und Sklaven entlassen werden sollten. Jubeljahre waren bei ihm tatsächlich noch welche, sie fanden da nur alle hundert Jahre statt. Bei den Katholiken avancierten sie schnell zum finanziellen Erfolgsmodell, der Erlass der Sünden füllte fröhlich die Konten und Klingelbeutel: Dank des Büßers für ein reines Gewissen. So senkte Klemens VI. die Periode bereits 1343 auf 50 Jahre, Urban VI. 1389 auf 33 Jahre (Lebenszeit Jesu auf Erden). Aus der Staats-Tabula-Rasa, als die Moses dies vielleicht verstanden hatte, war eine Geschäftsidee geworden.

Jubeljahr, Rubeljahr: Vor uns liegt - neben der Fußballweltmeisterschaft, deren unzählige mediale Vorrunden alleine schon Grund genug waren, die Tageszeitung abzubestellen und den Fernseher aus dem Fenster zu werfen - vor uns also liegt das Mozart-Brecht-Rembrandt-Freud-Beckett-Heine-Jahr. Nein, vor uns liegen: Sondersendungen, Motto-Shows, Themenabende, Extrahefte, Special Editions, Geschenkaufmachungen, neue Reihen und Serien und andere, meist um mediale, nicht um menschliche Aufmerksamkeit bemühte Veröffentlichungen. Und das nicht nur anlässlich der oben Genannten. Denn zu begehen sind außerdem und unter anderem: Fjodor M. Dostojewkis 125. Todestag, Thomas Bernhards 75. Geburtstag, Henrik Ibsens 100. Todestag, Klaus Manns 100. und Victor Klemperers 125. Geburtstag. Das deutsche Werbefernsehen wird 50, MTV, und AIDS 25 Jahre alt. Vor 200 Jahren besiegte Napoleon die Preußen in der Schlacht bei Jena und Auerstedt, vor 100 Jahren wurde "SOS" zum internationalen Notsignal, vor 50 Jahren erklärte das Verfassungsgericht die KPD für verfassungswidrig.

Schon stellen sich die Schwierigkeiten ein: Freuden- oder Trauertage? Der Germanist Jochen A. Bär schreibt in einem Duden-Kommentar: "Kaum jemand käme auf den Gedanken, anlässlich der Wiederkehr eines Todestages von einem Jubiläum zu sprechen. Das hängt mit der Verwandtschaft zusammen, die zwischen Jubiläum und Jubel (›Freudenruf‹) zu bestehen scheint".

Das ist Wunschdenken, diese sprachlichen Feinheiten kümmern tatsächlich nur wenige, heil- und oft gedankenlos jubiliert wird üblicherweise, wann immer ein Datum wiederkehrt. Am liebsten noch früher: Schon seit einigen Monaten begeht man vorauseilend gehorsam und produktreich das Mozartjahr. Und wo man hinhört: Ein jeder scheint leidlich genervt von dem Brimborium. So wenig man an Weihnachten seinen Nächsten liebt, sondern stattdessen eine Playstation unter den heidnischen Baum legt, so wenig will man glauben, dass alle Medien etwas plötzlich furchtbar interessant finden, über das sie lange Zeit rein gar nichts berichteten.

"Das Interesse an der Geschichte hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten so radikal wie nie zuvor von den res gestae abgelöst und den memoria zugewandt", schrieb der Historiker Paul Nolte im Merkur-Sonderheft Wirklichkeit! Wege in die Realität. Und weiter: Es ginge nicht um die historischen Fakten, sondern nurmehr um die Art und Weise der Erinnerung daran. Spiegel-Online demonstriert das gerade herrlich unbedarft. Das Spiegel-Dossier zum Thema Mozart enthalte, so heißt es auf der Webseite des Nachrichtenmagazins, "Berichte und Reportagen zur Mozartrezeption und den multimedialen Rummel rund um den 200. Todestag". Wo man doch lieber über den wilden Wolfgang selbst und seine Musik lesen würde, und dann auch keine Texte von 1991 (200. Todestag), sondern aus dem Jahr 2006, in dem man das 250. Jubiläum seines Geburtstags begeht.

Deshalb frei nach Walter Benjamin: Man möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen - bevor es andere tun. Schön böse wie immer verwandelte Elfriede Jelinek jüngst den Benjaminschen "Trümmerhaufen" in einen Kinderspielplatz, auf dem oft genug zweifelhafte Gesinnte wildern: "Im Neuen Jahr werden Menschen und Dinge, zumindest die, die grad dran sind, aber die sind dann wirklich dran!, wieder mal wie Bauklötze herumgeschoben werden". Die Nobelpreisträgerin feiert in diesem Jahr ihren 60. Geburtstag. Es ist ihr herzlich zu wünschen, dass kein Sender ihr zu Ehren eine Show plant.


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Geschrieben von

Katrin Schuster

Freie Autorin, u.a. beim Freitag (Literatur, TV, WWW)

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