Wer in Budapest bei der Konditorei "Auguszt" vorbeikommt, sollte die Gelegenheit nutzen und sich dort in einen der alten Sessel setzen, einen Kaffee trinken, dazu ein Stück Torte essen und eine Weile in süßer Traurigkeit verstreichen lassen. Es lohnt sich, ganz besonders, wenn man dazu den wunderbar trägen, melancholischen Franz Molnar liest, die Geschichte eines herrenlosen Bootes. Nach hundert Seiten scheint der Dichter vom Schreiben so erschöpft gewesen zu sein, dass er die Hauptfigur kurzentschlossen umbringen ließ, womit eine der schönsten Erzählungen der Weltliteratur schmerzhaft brüsk abbricht. Oder Die Dampfsäule, die, nicht weniger ergreifend, ebenfalls viel zu früh endet, oder Die Jungen von der Paulstraße, ein schmales
ei der Konditorei "Auguszt" vorbeikommt, sollte die Gelegenheit nutzen und sich dort in einen der alten Sessel setzen, einen Kaffee trinken, dazu ein Stück Torte essen und eine Weile in süßer Traurigkeit verstreichen lassen. Es lohnt sich, ganz besonders, wenn man dazu den wunderbar trägen, melancholischen Franz Molnar liest, die Geschichte eines herrenlosen Bootes. Nach hundert Seiten scheint der Dichter vom Schreiben so erschöpft gewesen zu sein, dass er die Hauptfigur kurzentschlossen umbringen ließ, womit eine der schönsten Erzählungen der Weltliteratur schmerzhaft brüsk abbricht. Oder Die Dampfsäule, die, nicht weniger ergreifend, ebenfalls viel zu früh endet, oder Die Jungen von der PaulstraXX-replace-me-XXX223;e, ein schmales Jugendbuch, simpel bis zur Einfalt, mit Fehlern im Ablauf und in der Konstruktion, aber von einer Stimmung und Kraft, die ihresgleichen suchen - drei Geschichten, die das schwermütige Budapest unsterblich machen.Nach einer Weile hat man das innere Gleichgewicht gefunden und geht weiter. Zu entdecken gibt es sämtliche Abstufungen von Grau. Andere Farben sind im Straßenbild kaum vorhanden, und wenn, dann sind sie verblasst. Nur vereinzelt gibt es schreiend bunte Panikattacken von grellem Modernismus dazwischen. Viele Häuser sind so verrottet, dass es billiger kommt, sie abzureißen, als sie zu renovieren. Die Schönheit der Stadt hat wenig zu tun mit der oft zitierten verblichenen Pracht Wiens, die heute als Folie ihrer selbst, hochgeschminkt und geliftet, ihr Leben fristet. Budapest ist alt nicht im historischen Sinn - da ist es eher jung mit seinen knapp hundertfünfzig Jahren -, sondern so, wie man früher alt geworden ist, als man das noch durfte: sich selbst auflösend, starrsinnig, schuppig, verwahrlost, mit einem zuweilen aufflackernden merkwürdigen Humor, mit Sehnsüchten, die wohl in diesem Leben nicht mehr zu stillen sind, und mit manchmal einer Erinnerung an vergangene Eleganz. Überall vor allem Vergangenheit.Zum Beispiel die 1907 von Franz Liszt eingeweihte Musikakademie. In den oberen Etagen beherbergt sie die Hochschule für Musik und einen Kammersaal für vierhundert Zuhörer, in welchem fast jeden Tag Prüfungen stattfinden. Wer sich traut und glaubwürdig den Eindruck vermittelt, für gute Musik durchs Feuer gehen zu wollen, kann sich nachmittags hineinschleichen und zuhören.Im Parterre befindet sich der Konzertsaal mit tausendzweihundert Plätzen. Das Gebäude wirkt, als sei es niemals renoviert worden. Alles schimmert in fahler Jugendstilpracht; nicht schwül, keine florale Ornamentik, sondern helles, klares, strenges Cleopatraägypten, beschlagen vom mohnstrudelgesättigten Atem der Budapester, die dieses Haus vom ersten Tag an ins Herz geschlossen zu haben scheinen und ihm bis heute die Treue halten.Die Vorhänge vor den buntverglasten saalhohen Fenstern sind mürbe und hängen an letzten Fäden. Ursprünglich wohl goldfarben, sehen sie heute aus wie getrocknetes Blut. Überall von Decken und Wänden schauen verblasste, allegorische Skulpturen und Malereien. Die einfachen, stoffbezogenen Reihenklappstühle sind möglicherweise ebenfalls nie ausgetauscht worden. Sie sind auffallend großzügig dimensioniert und bequem. Ohne sich ein einziges Mal rühren zu müssen, kann man leicht zwei ganze Symphonien hintereinander durchsitzen und fühlt sich immer noch wach, erholt und ausgeruht, als hätte man erst gerade eine italienische Ouvertüre gehört. Dazu kommt die fabelhafte Akustik, die, wie die freie Sicht, für jeden Platz gilt. Das Orchester spielt gleichsam mitten im Publikum. Der Raum ist hoch, die Decke gewölbt, alle schwimmen im Klang.Erwähnenswert sind auch die moderaten Eintrittspreise. Fern von Bayreuth, ohne auf Schritt und Tritt an Macht und Geld erinnert zu werden, verbindet hier die Leute, zwischen die man zu sitzen kommt, nichts als die Freude an der Musik und an der Schönheit des Orts.Leider werden die verwunschenen Garderobenständer in absehbarer Zeit bestimmt verschwinden. Die erschöpften Billetabreißerinnen und Programmverkäuferinnen werden ausgetauscht und durch junge, hübsche ersetzt werden. Der Saal wird renoviert und in eine seelenlose Mumie verwandelt werden. Die Preise werden drastisch ansteigen, man wird aus der ganzen Welt anreisen, um "in einem der schönsten Konzertsäle Europas" die Spitzen der internationalen Musikszene zu sehen und zu hören und dabei einander zu treffen.Vielleicht wird diese Entwicklung auch noch eine Weile auf sich warten lassen. Doch zur Sicherheit sollten sich romantische Vergangenheitsanbeter lieber heute als morgen auf den Weg machen und hierher reisen, um in der "Zeneakadémia" einen Musikabend zu erleben, wie sie ihn im europäischen Einerlei wahrscheinlich bald nirgends mehr finden können.
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