„Die Altenrepublik“: Rentner:innen haben das Geld und die Macht. Und was haben wir Jungen?
Demographie Julia Schramm ist 37, Autorin und Mitglied der Linken. Für den „Freitag“ hat sie das Buch „Die Altenrepublik - Wie der demografische Wandel die Demokratie gefährdet“ von Stefan Schulz gelesen
Seit ich ungefähr 18 bin, gehe ich davon aus, dass ich keine Rente bekomme. Also keine Rente, die über die Miete, zwei Zimmer, und eine warme Mahlzeit am Tag hinausgeht. Schöne Kleidung, Freizeitspaß, Reisen, den Enkeln mal was zustecken: ein Traum so weit weg wie die Hoffnung, mit dem Verzicht auf Avocadotoast ein Eigenheim kaufen zu können.
Avocadotoast? In einer Feuilletondebatte 2020 meinten Babyboomer, uns Millennials belehren zu müssen. Nicht die allgemeine ungerechte Verteilung von Reichtum verhindere unseren Weg zum Eigenheim, sondern unser exzessives Ausgabenproblem. Wenn die Millenials nicht dauernd essen gehen würden, zum Beispiel teuren Avocadotoast, so der Vorwurf, wäre der Traum vom Eigentum weniger illusorisch. Die Avocado stand dabei s
nd dabei sinnbildlich für exotisches und teures Essen vergleichbar mit dem Toast Hawai der Boomergeneration (den die natürlich zu Hause gegessen haben und der mittlerweile Toast Ananas heißt). Die ältere Generation habe es vor allem durch Sparen und Verzicht zu etwas gebracht. Die Jungen wären zu faul und verschwenderisch. Dass die Preise für Häuser und Boden in den letzten Jahren immens gestiegen und die Löhne vergleichsweise gesunken sind – es waren wie immer Details, die in der Debatte untergingen. Und statt einer ernsthaften Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Schieflagen wurde die Schuld absurderweise denen gegeben, die sich Avocado auf ein Brot schmieren. 30 Jahre Neoliberalismus haben viel Selbstgerechtigkeit und individuelle Schuldzuweisung befördert.Die Babyboomer gehenIch kann mich an kein Gespräch in meiner Generation erinnern, in dem die Rente mal unironisch Thema gewesen wäre. Es ist dabei nicht nur Ironie, es ist auch eine irritierende Selbstverständlichkeit, ein grotesker Fatalismus, die in diesen Gesprächen mitschwingen, so als wäre es ein Naturgesetz, dass wir im Alter nichts haben werden. (Wenn die Klimakatastrophe überhaupt etwas übrig lässt.)Was macht der Journalist Stefan Schulz in seinem Buch Die Altenrepublik – Wie der demografische Wandel die Zukunft gefährdet mit all der Resignation? In der Tat hält sein Buch das Versprechen, mehr als noch ein Buch zum Thema Rente zu sein. Schulz, selbst 1983 geboren, unternimmt eine mentale Bestandsaufnahme der Republik, in der die Alten das Geld, die Zeit und die Macht haben.Noch mal die Fakten: Deutschland wird immer älter, immer weniger arbeiten, die, die arbeiten, werden immer schlechter bezahlt, immer mehr Menschen brauchen Pflege, es gibt immer weniger Kinder. Die umlagefinanzierte Architektur unseres Sozialgefüges steht vor der Implosion. Mit dem Renteneintritt der Babyboomer, der 1958 bis 1964 Geborenen, ab 2023 (also in vier Monaten) wird dieses Dilemma potenziert. Das, so Schulz, sei eine Gefahr für die Demokratie.Ein Beispiel: ab 2035 wird es in Deutschland mehr Menschen mit Pflegegrad geben als Wähler:innen unter 30. Was macht das mit einer Gesellschaft, in der die Alten in der absoluten Überzahl sind? Was macht das mit der Demokratie, wenn in Sachsen 15 Prozent der Wähler:innen über 50 Jahren die gleiche politische Macht an der Wahlurne haben wie 100 Prozent der Wähl:innen unter 30? Es sieht nicht gut aus...Schulz zeigt, wie der Generationenkonflikt gesamtgesellschaftlich wirkt: Politik, Kultur und Marketing orientieren sich an den Ü60, da sitzt nicht nur das Geld, da sitzt die Mehrheit. In den USA werden mittlerweile mehr SUV an Ü70-Jährige verkauft als an U30-Jährige, branchenintern nenne man die SUV schon ironisch „Senioren Und Versehrte“, schreibt Schulz. Von der Politik ist also kaum zu erwarten, den Absatz der Riesenfahrzeuge zu regulieren, egal, was das Klima sagt. Der Markt regelt und der braucht große Autos. Er diagnostiziert polemisch: „Altenrepublik bedeutet, Angst vor Armut im Alter zu haben, weil schon heute das Geld fürs Wohnen draufgeht. Altenrepublik heißt aber auch, darüber nicht zu reden, weil die Kategorien ‚Weltkrieg‘ und ‚Inflation‘ die ältere Mehrheit der Fernsehzuschauer und Wähler mehr fesseln.“So zeichnet sich nach der, zugegeben etwas düsteren, Lektüre das Bild einer Gesellschaft ab, in der der ältere Teil emotional in einer posttraumatischen Belastungsstörung dank Weltkrieg festhängt, dafür aber finanziell gut ausgestattet ist, und der jüngere Teil seit Jahrzehnten erleben muss, dass sich alle Versprechungen über Leistung und Wohlstand als Lüge entpuppen, denn das haben wir mit der Bankenkrise 2008 doch gelernt: Finanzbetrug schützt mehr vor Altersarmut als ehrliche Arbeit.Ist der Generationenkonflikt also der neue Klassenkampf? Fakt ist, das Einkommen der 55- bis 74-Jährigen liegt 250 Prozent über dem Vermögensmedian, während das Einkommen von unter 45-Jährigen bei 70 Prozent liegt.Das Geld wird bei den Alten gehortet. Aber, und das ist ein kleiner Schwachpunkt des Buchs, eben nicht bei allen. Schon jetzt gibt es grassierende Altersarmut, müssen Alte Flaschen sammeln und zur Tafel gehen. Auch bei den Alten sind die Vermögensunterschiede immens – nicht sonderlich tröstlich, weil konkret heißt das: es wird alles nur schlimmer, die Altersarmut wird jedes Jahr auf ein neues Rekordlevel steigen, wer nicht erbt, wird nichts haben, was auch Schulz als problematisch erkennt: „Es gilt die Logik des Erbens. Beim Eigentum gilt also bis heute das vormoderne Prinzip der Dynastie.“Passagenweise kommt das Buch ein wenig in die Verlegenheit, Menschen gegeneinander auszuspielen, auch wenn die letzten Kapitel einen umfangreichen Blick auf die bekannten strukturellen Probleme werfen: am Arbeitsmarkt, bei der Ungleichheit der Geschlechter, das Armutsrisiko bei Kindern. Auch in der Altenrepublik wird immer wieder klar und deutlich: It’s capitalism, baby!Stefan Schulz versucht, alle Aspekte der gesellschaftlichen Realität des demografischen Kollaps zu illustrieren. Er setzt die verschiedenen Dimensionen mit frischem Blick zusammen. Der Autor geht dabei über die üblichen Betrachtungen demografischer und wirtschaftlicher Entwicklungen hinaus. Schulz widmet sich beispielsweise biochemischen Zusammenhängen, die beim Zusammenhalt der Gesellschaft eine Rolle spielen. Er setzt sich mit dem großen Thema Einsamkeit und der zweischneidigen Rolle der Digitalisierung auseinander, mit Beispielen aus der Geldtheorie erklärt er die tragende Rolle von Vertrauen in unserer Gesellschaft: Vertrauen schüttet das Kuschelhormon Oxytocin aus, was wiederum unsere Bereitschaft zu (finanziellem) Risiko erhöht. Eine Demokratie, in der Vertrauen erodiert und Einsamkeit grassiert, ist anfällig.Das im Buch angeführte Beispiel Japans, wo künstliche Wölfe in vereinsamten Wohngegenden aufgestellt werden, um Bären von der Rückeroberung des Raums abzuhalten, zeigt die Absurdität hochentwickelter Gesellschaften am Beispiel des Wohnungsmarktes: Während Renter:innen in zu großen Wohnungen und Häusern sitzen, müssen sich junge Familien mit viel zu kleinem Raum zufrieden geben. Eine Aufgabe zukünftiger Politik wird es also sein, Wohnraum effizienter und gerechter zu verteilen – sei es in Form von Wohngemeinschaften, Wohnungstausch oder Ähnlichem. Denn die Idee innovativer Wohnverhältnisse erscheint sinnvoller als, nun ja, das Aufstellen künstlicher Wölfe in vereinsamten Wohngebieten. Etwas, was Schulz leider nicht aufgreift, sich dafür aber mit den politischen Notwendigkeiten befasst, 4-Tage-Woche, Work-Life-Balance, 1,8 Kinder, you name it, welche aufgrund des von ihm dargelegten Demokratieproblems wenig Chancen auf Umsetzung haben.Einigen ist Stefan Schulz bekannt als Moderator des „lässigen“ Polit-Podcasts Die Neuen Zwanziger zusammen mit dem Journalisten Wolfgang M. Schmitt junior. Das Buch ist mehr in einem dringlichen Ton geschrieben, was der Dramatik der Situation wahrscheinlich angemessen ist. Bei der/dem Leser:in bleibt ein fades Gefühl. Was man dem Autor schwerlich anlasten kann. Dafür ist das Buch immerhin mit einer gehörigen Portion Ironie geschrieben. So als handle es sich um die Millenial-Ausgabe der Rentenproblematik. Das ist durchaus als Kompliment zu verstehen. Die Millenials sollten es lesen. Aber: nicht nur die.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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