Julia Klöckner hat etwas geschafft, woran Gesundheits- und Umweltorganisationen seit Jahren hart arbeiten: ihr Video, in dem die CDU-Ernährungsministerin den Lebensmittelmulti Nestlé für dessen freiwilliges Engagement lobt, sorgte für einen Aufschrei. Klöckners Nähe zur Industrie füllte Kommentarspalten und Titelseiten, wurde sogar zum Thema in der Tagesschau. Erstaunlich eigentlich, denn das symbiotische Verhältnis zwischen Politik und Ernährungs- wie Zuckerindustrie hat eine lange Tradition. Angesichts der Zunahme ernährungsbedingter Krankheiten wie Diabetes und Adipositas warnte die Ex-WHO-Generaldirektorin Margaret Chan Regierungen schon 2013 davor, mit Multis zu kooperieren: „Kein einziger Staat hat es geschafft, die Fettlei
die Fettleibigkeits-Epidemie in allen Altersgruppen zu stoppen. Hier mangelt es nicht an individueller Willenskraft. Hier mangelt es am politischen Willen, sich mit einer großen Industrie anzulegen.“Chan und andere vergleichen „Big Food“ mit „Big Tobacco“, weil Lebensmittelkonzerne mit ähnlichen Methoden wie die Tabakindustrie Öffentlichkeit und Politik täuschen – falsche Zahlen, Fehlinformationen, gekaufte Wissenschaftler und Ärzte. So fand Foodwatch heraus, dass 80 Prozent der Studien, die von Unternehmen der Softdrink-Industrie finanziert wurden, keinen Zusammenhang zwischen dem Konsum von Zuckergetränken und Übergewicht finden. 80 Prozent der unabhängigen Studien kommen zum gegenteiligen Schluss.Die Wirtschaftliche Vereinigung Zucker schreibt in ihrem Weißbuch Zucker: „Falscher Alarm: Zucker macht weder dick noch krank“. Natürlich lehnt der Lobbyverband die Nährwert-Ampel ab und bewirbt Zucker als „Bestandteil einer ausgewogenen Ernährung“, eine „zielführende Ernährungsdebatte“ müsse den ganzen Lebensstil im Blick haben, nicht den „Fokus auf Zucker.“ Darauf beharrt diese Industrie seit Jahren: nicht ihre Produkte seien schuld an Übergewicht, sondern mangelnde Aufklärung und zu wenig Sport. Diese Umdeutung hat verfangen: Es war die grüne Verbraucherministerin Renate Künast, die 2004 gemeinsam mit der Industrie die „Plattform Ernährung und Bewegung“ initiierte. Zu den Mitgliedern zählen bis heute Danone, Mars und Ferrero, der Bundesverband der Süßwarenindustrie, der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde sowie das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Bis vor Kurzem zählten sogar Coca Cola, KFC und Nestlé zu den Mitgliedern. 2018 stiegen die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte und die Deutsche Adipositas Gesellschaft aus dem zweifelhaften Forum aus. Man wolle „kein Feigenblatt“ sein, die Arbeit des Netzwerks habe – Überraschung! – zu keinerlei Erfolg bei der Bekämpfung von Übergewicht bei Kindern geführt.Es sind genau solche freiwilligen Vereinbarungen mit der Industrie, die ihre Macht stärken statt sie zu schwächen. Mit einem Umsatz von knapp 180 Milliarden Euro ist die Lebensmittelindustrie die viertgrößte in Deutschland. Süßigkeiten und Fertigprodukte, die aus billigen Rohstoffen wie Zucker, Fett (Palmöl!), Stärke, Geschmacksstoffen und Farbe bestehen, sind wahre Gelddruckmaschinen. Um dieses Geschäft abzusichern, brauchen die Konzerne eine Politik, die sie nicht reglementiert. Der Dachverband der Nahrungsmittelindustrie, „Food and Drink Europe“, ist die größte Lobbyorganisation auf EU-Ebene und hat entsprechenden Einfluss auf die EU-Ernährungspolitik. In Deutschland ist es neben den Lobbyvereinen der Lebensmittelindustrie vor allem der Bauernverband, der die Landwirtschafts- und Ernährungspolitik bestimmt. Erst kürzlich veröffentlichte die Uni Bremen eine Studie, die abermals die enge Verflechtung von Bauernverband, Industrie und Politik darlegt.„Ich tue alles, was der Bauernverband von mir will“, so wird kolportiert, soll die ehemalige Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner einem Ministerkollegen gesagt haben. Ihr CSU-Parteifreund und Nachfolger Christian Schmidt schonte ebenfalls stets die Industrie und stimmte gegen Absprachen mit der SPD der Verlängerung der Glyphosat-Zulassung durch die EU zu.So geht es weiter mit seiner Nachfolgerin Klöckner, die weder auf wissenschaftliche Erkenntnisse noch auf eigene Berater oder EU-Vorgaben hört, geschweige denn auf die, die sie schützen soll: die Bevölkerung – vor zu viel Nitrat im Wasser, zu viel Pestiziden auf den Äckern und vor ungesunden Lebensmitteln. Der Unterschied heute ist: all das findet nicht mehr hinter verschlossenen Türen statt, sondern ganz schamlos in aller Öffentlichkeit – durch Klöckners Nestlé-Tweet etwa, der der Ministerin so viel Kritik eingebracht hat. Dass diese die Aufregung nicht versteht, ist logisch. Sie agiert inhaltlich ja nicht anders als ihre Vorgänger. Nur trifft dieses Agieren jetzt auf eine Gesellschaft, die über dahinterliegende Zusammenhänge immer besser Bescheid weiß, die sich in Bewegungen organisiert, und die die Schnauze voll hat von einer antidemokratischen Politik für Konzerne und gegen die Menschen. So gesehen ist Klöckners Tweet das Beste, was sie für’s Gemeinwohl nur tun konnte: er wird die wachsenden Proteste weiter befeuern.Placeholder infobox-1