Junge slash Mann

EU intim Über die vielen kleinen Schrägstriche, hinter denen sich eine große Brüsseler Wahrheit verbergen könnte

Bevor ich nach Brüssel kam, legte ich mir ein Archiv über alle 27 Mitgliedsvölker an, Geschichten, Statistiken, Besonderheiten. So wusste ich über die Malteser, dass sie zum Rekordwert von 54 Prozent weniger als ein Buch pro Jahr lesen, dass sie ihren römisch-katholischen Gott auf Maltesisch „Allah“ rufen und dass sie, wenn sie maltesische Männer sind, auf den Stränden ihrer Insel zur Masturbation vor deutschen Touristinnen neigen.

Dieses Archiv war vollkommen nutzlos. Es sind gerade nicht die nationalen Intimpartien, die für die Brüsseler Europablase typisch sind. Dazu drei verstreute Brüsseler Beobachtungen.

Untypisch war das Schreckensbild, das mich eines Nachmittags im Europäischen Parlament verstörte. Über die Abgeordneten dieser Versammlung hatte ich viel Mitleid Erregendes gehört. Eine deutsche Wissenschafterin schrieb ihre Doktorarbeit über deren soziale Netzwerke und erzählte mir, dass eine Abgeordnete beim Tiefeninterview in Tränen ausgebrochen sei.

Im Prinzip arme Schweine

Ein Parlamentarier hatte zu Protokoll gegeben, dass er morgens beim Aufwachen oft nicht mehr wisse, wo er gerade sei. Was damit zu tun haben mag, dass die Abgeordneten drei Wochen pro Monat in Brüssel und Straßburg kaserniert sind, zuhause in den Mitgliedsstaaten aber kaum jemand ihr schwer erklärliches Tun beachtet. Die Wissenschaftlerin fasste mir ihre 600seitige Dissertation so zusammen: „Das sind im Prinzip arme Schweine.“

Eines Nachmittags streifte ich also durch das Europäische Parlament. Hinter der Glaswand einer abgesonderten Raucherkammer sah ich einen weißhaarigen Mann sitzen. Er trug einen gelben Judenstern am Revers. Der Mann war sehr alt, er konnte noch der Generation des Holocaust entstammen. Er rauchte mit unbewegter Miene. Er bewegte nur die Hand, welche die Zigarette hielt. Ich starrte ihn an wie ein Gespenst. Er rauchte langsam und ungemein bewusst. Ich dachte spontan, das sei wohl eine Protestaktion gegen die Rauchverbote, mit denen die europäischen Institutionen den Kontinent überziehen, und ich dachte, das ist aber überzogen. Ich sprach ihn an. Es war ganz anders. Der Mann war ein Abgeordneter der italienischen Radikalen, er wollte nur wieder einmal sein „Niemals vergessen“ in Erinnerung rufen.

Ein anderes Brüsseler Bild schien mir auf eigene Weise typisch. An einem grauen Wintertag beriet sich der Rat der Finanzminister über die Stützung großer Banken, auf Englisch „bail-out“. Unter dem Transparent Bail-out the climate! blockierten Aktivistinnen von Greenpeace die Einfahrt zum Ratsgebäude. Kaum jemand sah zu.

Drehen für einen Porno?

Mir fiel auf, mit welch routinemäßiger Perfektion alle Beteiligten vorbereitet waren: Zwei Aktivistinnen hatten sich an den Metallzaun gekettet, die Polizisten hatten die passende Eisensäge schon dabei, die Kameraleute der Umweltlobby hatten die besten Standplätze bezogen. Eine hübsche Aktivistin, von ihren Ketten befreit, wurde zum Polizeibus getragen. Sie wölbte dabei ihre nackte Nabelpartie. Ich fand das erotisch, auch der Kameramann hielt drauf. Ich fragte mich: Bin ich eigentlich auf einer Demonstration oder schaue ich bei Dreharbeiten zu einem Porno zu?

Dann noch ein Ton, der mir im Ohr hängen blieb, er stammte von einer Schweizerin. Die Schweiz ist nicht EU-Mitglied, aber Schweizer begegnen mir in Brüssel immer wieder. Ich kannte einen Schweizer, der einen mehrmonatigen Kurs der italienischen Handelskammer besuchte. Er hatte eine schlechte Meinung von der Europäischen Union. Um so dringender wollte er lernen, wie man als Schweizer dem verachteten Staatenbund Fördergelder entlockt, die für soziale und andere Projekte nützlich sein könnten.

Die junge Schweizerin, die ich in Brüssel kennenlernte, vertrat eine auf mexikanische Kinder und Jugendliche fokussierte Nichtregierungsorganisation (NGO). Ich sprach mit ihr Deutsch, dabei gebrauchte sie häufig das englische Wörtchen Wörtchen slash – Schrägstrich. Sie nannte zum Beispiel ihren Arbeitsansatz „realistisch slash humanistisch“. Wenn sie von einem Kerl sprach, sagte sie über ihn: „Junge slash Mann“. Ich meine, auch diese vielen kleinen Schrägstriche könnten eine große Brüsseler Wahrheit sein.

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